Im Lauf der Jahre wurde mir eines zunehmend klar: sie konnte kein “Nein” hören. Ich glaube, sie konnte es wirklich nicht. Etwas in ihr stand dem grundsätzlich entgegen. Sicher, das Wort “Nein” mag bei ihr angekommen sein; die dahinter stehende Botschaft in aller Regel nicht.
Es geht nicht darum, dass sie Recht haben wollte, dass sie überhaupt etwas haben wollte. Im Gegenteil: sie wollte geben. Wenn sie einem etwas anbot, dann war das kein Angebot im herkömmlichen Sinne, nie. Es war eine Ankündigung der Tat, auch im banalsten Kontext:
“Soll ich Dir noch etwas Wurst holen?”
“Nein, danke. Käse ist super, das reicht mir.”
…
“Hier, bitte, die Wurst.”
Wenn ich dann betonte, dass ich doch nein gesagt habe, lag manches Mal eine gewisse Schärfe in meiner Stimme. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sie überhört hat. Aber überhört hat sie sie, wohlwollend. Immer. Und das nächste Scheinangebot unterbreitet. Selbst dann noch, als sie kaum mehr in der Lage war, sich auf den Beinen zu halten. Eine schwer kranke Frau, die nichts Anderes im Sinn hatte, als Ihre Lieben zu umsorgen. Im besten Sinne.
Ja, manchmal hat man keinen Sinn dafür, ich sagte es, will vielleicht nicht umsorgt werden. Ärgert sich ein bisschen. Zwei Sekunden lang. Und entspannt sich wieder. Ist dankbar. Weil man, weil ich weiß: es kam so sehr von Herzen, war durch und durch lieb gemeint, aufrichtig, fürsorglich, anderen (hier, und oft: mir) Umstände vermeidend, indem sie sich selbst Umstände machte. Viel zu oft nahm ich es wie selbstverständlich hin.
Wir haben über Worte geredet in diesen Tagen. Mit ihrer Tochter, meiner Frau. Darüber, dass Nächstenliebe so ein großes Wort sei. Und darüber, dass es kaum ein besseres gibt, um ihr Wesen zu beschreiben. Ein Wesen, das sich Tag für Tag in kleinsten Gesten ausgedrückt hat. In Hilfsbereitschaft, in geteilter Freude, Mitgefühl, in einer die eigenen Bedürfnisse verleugnenden Rücksichtnahme, bis in die allerletzten Tage hinein. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, hätte sie dem Pflegepersonal die Arbeit abgenommen.
Sie hatte diese Krankheit nicht akzeptiert, zu keinem Zeitpunkt. Hinterlistig war sie gewesen, hatte sie auf beschissene Art und Weise überrumpelt und sie dann nicht mehr in Ruhe gelassen. Sie wehrte sich, bekämpfte sie, ignorierte sie, weigerte sich, ihr Platz in ihrem Leben einzuräumen oder gar das Zepter zu überlassen. Sie würde sich ihr Leben zurückerobern. Mancher mag ihren Optimismus für naiv gehalten haben, vielleicht auch für einen Versuch, sich selbst zu belügen; ich bewunderte ihn. Bewunderte sie.
Es war lange klar, dass der Krebs sie irgendwann in die Knie zwingen würde. Doch klein beigeben würde sie nicht. Aufrecht würde sie bleiben. Zu sehr liebte sie das Leben, strahlte eine kindliche Freude aus, war an allem und jedem interessiert.
Immer wieder kommen mir diese Situationen in den Sinn, in denen sie mit wildfremden Menschen am Tisch saß und es keine fünf Minuten dauerte, bis sie tief ins Gespräch versunken waren, ob sie nun gemeinsame Themen hatten oder nicht, eigentlich, und mitunter auch unabhängig von der Frage, ob sie eine gemeinsame Sprache beherrschten. Das Leben war ihr Freude, der Austausch mit Menschen Genuss, ja Lebenszweck.
Für eine Krankheit war schlichtweg kein Platz, keine Zeit. Wer sie besuchte, durfte über Gott und die Welt mit ihr reden, aber doch bitte nicht über dieses schnöde Gesundheitsthema. Es gab wahrlich Wichtigeres.
Vor ein paar Tagen ist sie gegangen. Gewehrt hat sie sich, den Kopf nahm sie hoch, immer wieder, bis zuletzt. “Du kriegst mich nicht klein, Du nicht!“, wollte sie sagen. Bestimmt.
Es muss ein großer Verlust sein, für dich, für euch, so jemanden nicht mehr zu haben.
Ich wünsch euch, dass in euren Gedanken, gerade auch in der Zeit der Trauer, genau diese schönen Momente viel Raum haben.
Dürfen traurige Texte für schön empfunden werden ? Zeilen, die einem zugleich die Augen befeuchten und die Lippen lächeln lassen ? Die die Liebe zu einem Menschen bezeugen, der fehlen wird. Wenn an dem so ist, dann sind diese Zeilen ein schöner Text. Und dafür möchte ich mich bedanken. Und ich hoffe, dass die Tränen der Trauer eines Tages zu Freudentränen werden, wenn Ihr Euch erinnert. Aber was heisst erinnert ? Menschen, die in unseren Herzen wohnen, sind nie weg. Sie bleiben auf ewig. Und lächeln.
Danke schön, Ihr beiden.
Mir gefällt es, dass Du diesem Abschied einen Platz frei räumst und ihn hier hineinstellst.