Pommes rot-dings

Vor mehr als fünf Jahren stand hier zu lesen, also virtuell hier, tatsächlich noch an etwas anderer Stelle, wie er so war, der erste Stadionbesuch mit meinem Erstgeborenen: “Hoffenheim, ey – typisch mein Alter!” Kurzfassung: gelungen. Der Stadionbesuch.

Zwischenzeitlich war er immer mal wieder dabei und dürfte mittlerweile auch das Alter jenes jungen Mannes überschritten haben, der sich dereinst in der alten Cannstatter Kurve ein paar Meter hinter uns regelmäßig mit einem lautstarken, wenn auch noch etwas piepsigen “Die Hände!” zu Wort meldete, angefeuert von den umstehenden Erwachsenen, und dabei im Lauf der Zeit zusehends heranwachsender gekleidet war. Kürzlich habe ich mich gefragt, ob ich wohl wissen möchte, was in der Zwischenzeit aus ihm geworden sein mag, ob er noch zur Schule geht, vielleicht eine Ausbildung begonnen hat, ob er weiterhin regelmäßig im Neckarstadion anzutreffen ist, vielleicht auch in zahlreichen anderen Stadien der Republik, und wo er möglicherweise in der Kurvenhierarchie angekommen ist.

Oder jene hübschen jungen Frauen, Mädchen eher, Zwillinge vermutlich, denen etwa zur selben Zeit das Interesse umstehender männlicher Teenager galt, neben dem Fußball, selbstredend, und die dieses Interesse dann zumindest in einem Fall auch eine Zeitlang erwiderten, was mir, der ich altersmäßig ihr Vater sein könnte, gerade bei diesem einen Typen in einer Art und Weise missfiel, die ich in wenigen Jahren, wenn meine eigenen Töchter ein bisschen älter sind, in potenzierter Form erfahren und erleiden werde. Mehr oder weniger still.

Besagte junge Damen sah ich vor einigen Monaten auf dem Weg zum Stadion in der Stadtbahn, nach wie vor mit Fanutensilien, nach wie vor mit männlichen Interessenten, und lächelte in mich hinein, wissend, dass das Wiedererkennen, oder auch nur das Erinnern, vielleicht gar das damalige Wahrnehmen, nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

Neulich, gegen Sandhausen, war ich wieder mit einer jungen Dame im Stadion – meiner älteren Tochter. Ob Sandhausen nun eine bessere Wahl ist als damals Hoffenheim, sollen die beiden jungen Leute dereinst unter sich ausmachen. Drei Punkte gab’s in beiden Fällen, und auch das Stadion war jeweils gut gefüllt, die Stimmung, das Erlebnis entsprechend. Eine glückliche Fügung führte gegen Sandhausen dazu, dass die Plätze unmittelbar vor uns leer blieben, sodass die junge Dame nicht gezwungen war, die ganze Zeit auf der wackligen Sitzfläche zu stehen, gestützt von ihrem zunehmend wackligen Vater, wie die tapferen Mitlesenden, die oben dem Link zum Hoffenheim-Spiel folgten, erahnen könnten; vielmehr stand sie lange Zeit auf dem Boden, saß gar phasenweise, den Oberkörper windend, um das Spielfeld zu sehen – was per se schon mal ziemlich gut war. Der Wille, das Spielfeld zu sehen, meine ich.

Die Fragen nach den Werbebanden, nach der Anzeigetafel oder gar nach der verbleibenden Spieldauer waren vergleichsweise selten, bis hin zu inexistent, Einwürfe der Kategorie “Oh, fast ein Tor für Sandhausen oder wie die heißen!” deutlich häufiger, häufiger auch als beim damals noch etwas jüngeren Bruder, wenn auch nicht immer vollends gerechtfertigt. Klar, die Trommler waren spannend, und überhaupt die kleine Sandhäuser Schar am anderen Ende des Stadions, deren Gesänge man naturgemäß nicht so gut verstand wie die der Leute um einen herum, auch wenn der Papa da gelegentlich Verständnishilfe geben musste durfte – weshalb es dann doch wieder sinnvoll war, auf die Sitzfläche zu steigen, um eine relativ kontinuierliche Kommunikation zu ermöglichen.

Apropos Kommunikation: Relativ früh hatte ich ihr zu verstehen gegeben, dass ein Toilettenbesuch aus logistischen Gründen möglichst vor oder nach der Pause erfolgen sollte. Das kluge Kind hielt sich daran, wir gingen nach einer guten halben Stunde, und was soll ich sagen?! Da war voll! Kein appetitliches Thema, ich weiß, aber wieso bildet sich während des laufenden Spiels eine Toilettenschlange? Interessieren die sich alle nicht für Fußball? Ich kann ja schon sehr schwer damit umgehen, dass Menschen während des laufenden Spiels Getränke und Speisen holen, aber da erkenne ich zumindest, dass es in der Pause möglicherweise ein hoffnungsloses Unterfangen ist, rechtzeitig zum Anpfiff wieder am Platz zu sein, aber so ein Toilettengang, mal ehrlich, ach, ich sollte das jetzt vielleicht nicht weiter ausführen.

Wo wir also schon mal draußen waren und unmittelbar neben der Verpflegungsstation standen, war es kein großes Ding, dem kindlichen Drang nach Pommes nachzugeben – auch vor dem Hintergrund, dass das Kind vor dem Spiel nichts gewollt, dann aber selbstverständlich Papas rote Wurst aufgegessen hatte. Tja. Nun also Pommes. Und natürlich lässt es sich ein Verein wie der VfB nicht nehmen, deren rot-weißes Element offensiv herauszuheben, was auch im Sinne von Tochter und Papa ist, die sich also mit den noch ungefärbten Pommes auf den Weg zur Dekoabteilung machen, um rotes Ketchup und, äh, wo ist denn die Mayonnaise, also, wie jetzt, goldgelben Senf draufzugeben? Göttinger Gruppe, anyone?

Aber was hat sie sich gefreut, als das 2:1 fiel. Gewiss, sie hatte keine andere Wahl, Ekstase allerorten, Simon Terodde Fußballgott, Sie wissen schon, Carlos Mané gleich noch dazu, und hinterher vertraute sie mir an, sie habe heute den schönsten Tag des Jahres erlebt. Und nun kommen Sie mir nicht mit dem Datum, mein Herz ging auf und ist es noch, und beim nächsten Mal möchte sie aber auch ihren Bruder dabei haben und hach.

Sandhausen war also durch, der Aufstieg aus meiner Sicht ja ohnehin längst in trockenen Tüchern, und so ließ ich meinen Vater telefonisch wissen, dass der VfB, so man in Heidenheim gewönne, nicht nur definitiv aufsteige, sondern auch Meister werde. Was dann ja auch souverän gelang, also das Gewinnen, und dass die angebliche Souveränität auch mit dem russischen Streamanbieter zusammenhängen mag, der mich die letzten paar Minuten vom Spiel ausgeschlossen hat, will ich gar nicht abstreiten in Betracht ziehen.

Und so kommt es also, wie wir alle seit Jahrzehnten gesagt haben, und sogar noch besser: Nicht nur 84-92-07-17, nein, dank der neuen Situation können wir auch noch die 77 und damit eine weitere Dekade vereinnahmen, Sie wissen schon, damals, als man im letzten Spiel nur deshalb kein Tor mehr schoss, um die glatte 100 zu sichern.

Was ich geraucht habe? Sie müssen mich verwechseln. Geraucht hat der DFB, der im Jahre 2017 glaubt, Carlo Ancelotti wegen eines ausgestreckten Mittelfingers zur Räson bringen zu müssen. Entsetzlich! Überhaupt herrscht dieser Tage in der Fußballwelt reichlich Entsetzen. Beim DFB, wie gesagt, über Herrn Ancelottis Fingerfertigkeit, bei Menschen mit einem besonderen Gespür für Benachteiligungen über den Bayern-Bonus und bei Twitter über Timo Werner. Gut, dass sich die junge Stadiongängerin nicht für sowas interessiert.