Während der ersten Halbzeit verhielt er sich ziemlich ruhig. Ganz im Gegensatz zu seinem Nebenmann, der sich wieder einmal als Bruddler ersten Ranges erwies und zumeist zwischen halbherziger Anfeuerung für den Gegner und dem Hinweis auf dessen erbärmliches Niveau wechselte, das selbst dem VfB einen Sieg ermögliche. Also wie gehabt.
Er aber, den ich zuvor noch nie in meiner Bundesligakneipe gesehen hatte, unterstützte ganz normal den VfB. Freute sich über das 1:0 und das 2:0, schimpfte ein wenig über die Freiheiten, die Kaiserslautern auf den Außenpositionen hatte, und zeigte sich gleichzeitig beruhigt darüber, dass die Lauterer Flanken nie den Anschein erweckten, jemals einen Abnehmer zu finden. Er beteiligte sich zurückhaltend an den Pausendiskussionen, die erste Hinweise darauf gaben, dass Marica und Gebhart, trotz jeweiliger Torbeteiligung, einen Teil des in der Vorwoche erworbenen Kredits bereits wieder verspielt hatten, und wirkte ansonsten eher untypisch reserviert.
Ab dem 3:0 änderte sich das ein wenig. Nach einem ersten vorsichtigen “Es geht noch 40 Minuten!” wies er so lange und mit leicht ansteigender Lautstärke darauf hin, dass unsere Mannschaft zur Zeit ja ständig Führungen aus der Hand gebe, bis der erste die Geduld verlor und ihm sagte, dass von den zahlreichen Saisonniederlagen des VfB noch keine nach einer eigenen Führung entstanden sei (den Hinweis auf eher seltene Führungen des VfB verkniff ich mir). Diesem durchaus schlagenden Argument schenkte er nur insofern Beachtung, als er den Betrachtungszeitraum ausweitete und Formulierungen wie “halt so allgemein” und “seit Jahren” einfließen ließ. Ach, lass ihn reden, dachte ich so bei mir.
Und wie er redete.
Er redete nach dem 1:3.
Er redete nach dem 2:3.
Er redete nach dem 3:3.
Ich hingegen redete nicht mehr viel. Gelegentlich sprang ich auf, um Maricas Chancenverwertung zu verfluchen, Molinaros Zweikampfverhalten anzuprangern oder Cacau wegen eines dummen Fouls in Strafraumnähe zu verunglimpfen. Weniger impulsiv reagierte ich auf vorhersehbare Entwicklungen, so den Umstand, dass Christian Tiffert zwar im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Stuttgartern nicht selbst traf, dafür aber alle drei Kaiserslauterer Tore vorbereitete, oder den Kontrollverlust von Babak Rafati, der zu lange auf persönliche Strafen verzichtete und das Spiel danach nicht mehr so recht einfangen konnte.
Selbstverständlich redete er in der Zwischenzeit weiter und bemühte sich nach Kräften und mit zunehmend nennenswerter Unterstützung durch oben genannten Nebenmann, den Siegtreffer für die Gastgeber herbeizureden. Es gelang ihm nicht, weil Sven Ulreich Bugeras Freistoß in der Nachspielzeit parierte. Vielleicht sollte ich mir die Bemerkung verkneifen, dass sich Jens Lehmann in dieser Situation eher nicht quer in die Luft gelegt, den Ball aber sicher gefangen hätte. Will sagen: es ist durchaus angemessen, Ulreich für die Aktion zu loben; dabei darf man es dann aber auch bewenden lassen. Nicht jede Parade, der ein Torhüter einen glänzenden Anstrich verleiht, ist gleich eine Glanzparade.
3:3 also. Der Herbeireder gab sich letztlich doch wieder als VfB-Anhänger zu erkennen, der betrunkene 60er-Fan, der sich zur Pause noch als Glücksbringer wähnte, gab seine Hoffnung, künftig bei jedem VfB-Spiel eingeladen und verköstigt zu werden, wieder auf, und ich verließ den Ort des Geschehens so rasch wie möglich, um mich einem gelungenen Lebensmittel-Frustshopping hinzugeben.
Später am Abend und insbesondere heute morgen tat ich mich ein wenig schwer mit den Lobpreisungen im deutschen Fernsehen. Ich hatte kein überragendes Spiel gesehen und kann mir bei neutralen und zumindest minimal kundigen Zuschauern nur schwer überschäumende Begeisterung ob der Partie vorstellen. Natürlich kann man angetan sein ob des Verlaufs, beeindruckt von der Aufholjagd, verzückt ob der Tore von Ilicevic und Boka, berührt von der Fritz-Walter-Choreografie vor dem Spiel. Aber von der Spielanlage her war das doch eher durchschnittlich, oder täusche ich mich da?
Die frühe und deutliche Führung des VfB war weniger die Folge einer zwingenden und strukturierten Offensivleistung, als vielmehr das Ergebnis gelungener einzelner Aktionen, die insbesondere vor dem zweiten und dritten Tor von haarsträubenden Abwehrfehlern begünstigt wurden. Mir fehlt auch ein bisschen das Verständnis dafür, dass die Mannschaft nicht nur, wie von Jens Keller, angekündigt, “etwas tiefer” stand als gegen Bremen, sondern Kaiserslautern bereits in der ersten Halbzeit bis 30 Meter vor dem eigenen Tor recht ungestört agieren ließ. Funk hatte einen gebrauchten Tag erwischt, was Rivic vom Halbfeld bis zur Grundlinie ausnutzte. Wären seine Hereingaben angekommen, hätte sich wohl schon früher ein anderes Spiel entwickelt. Auf der linken Seite schaffte es Molinaro immerhin, die Flankengeber im Halbfeld zu binden, sodass die Gefahr überschaubar blieb – zumindest in der ersten Hälfte. Danach fielen die ersten beiden Tore über Molinaros Abwehrseite, das dritte – auch das keine Überraschung – aus einer Standardsituation. Die rechte Seite wirkte mit Boulahrouz kurzzeitig etwas stabiler als zuvor, aber bereits vor dessen Auswechslung ging der ganz offensichtlich (und keineswegs überraschend) verunsicherten Mannschaft die Ordnung in der Defensive weitestgehend verloren.
So etwas passiert. Trotz des deutlichen Sieges gegen Bremen wäre es angesichts des bisherigen Saisonverlaufs vermessen, ein selbstbewusst agierendes Team zu erwarten, das der Aufholjagd mit breiter Brust und dem Vertrauen in die eigene Stärke entgegen tritt. So weit sind sie gegenwärtig nicht. An Delpierre, der gestern erneut nah an der Schwelle zum Frustfoul stand, kann sich die Defensive noch nicht wieder im nötigen Maß anlehnen, nach vorne fehlt die Überzeugung, um die wenigen Situationen, in denen man sich nicht blind befreit oder den Ball anderweitig viel zu schnell wieder abgibt, konsequent abzuschließen.
Ich hoffe, dass sie bald zurück kommt. Damit man dem Herbeireder ein völlig entspanntes “IN YOUR FACE!” entgegenflüstern kann.