Gegen alle direkten Freistöße!

Bei der EM 1996 bestritt die deutsche Mannschaft ihr letztes Gruppenspiel in Old Trafford gegen Italien. Italien musste gewinnen, Deutschland war bereits für das Viertelfinale qualifiziert und sah kein Land, hatte aber einen überragenden Köpke im Tor. Mitte der zweiten Halbzeit sagte Beni Thurnheer, der das Spiel gemeinsam mit Günter Netzer für das Schweizer Fernsehen kommentierte, sinngemäß folgendes:

“Ich hätte nicht gedacht, dass die Deutschen noch schlechter spielen könnten als in der ersten Halbzeit. Sie haben mich eines Besseren belehrt.”

Selten habe ich so oft an diesen Satz zurückgedacht wie während des gestrigen Spiels des VfB gegen den 1. FC Köln, in dem das schwache Niveau der zweiten Hälfte des Glasgow-Spiels vom Mittwoch über weite Strecken noch unterboten wurde. Zu keinem Zeitpunkt war ein Hauch von Inspiration, Esprit oder gar Spielwitz zu erkennen, um die sehr tief verteidigenden Kölner in Schwierigkeiten zu bringen. Viel schwerer wog allerdings der Eindruck, die Mannschaft habe nicht alles gegeben. Sie habe sich in die Kölner Vorgabe gefügt und sehr statisch den Ball hin- und hergeschoben, anstatt variabel und eben auch laufintensiv deren Defensive auszuhebeln, bzw. es zumindest zu versuchen. Sie sei nicht bereit gewesen, die Wege zu gehen, die man wohl gehen muss, um eine so massierte Deckung aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und sie habe auch in punkto energischer, teilweise aufwändiger Ballgewinnung noch viel Luft nach oben. Ich selbst konnte mich dieses Eindrucks auch nicht erwehren, und hatte deshalb -im Widersprich zu meinen Aussagen kürzlich im VfB Fanpod – ausnahmsweise viel Verständnis für die “Wir wolln Euch kämpfen sehn”-Sprechchöre.

Ansonsten möchte ich über das Spiel nicht allzu viel sagen. Dass ich beim ersten Tor nicht weiß, über wen ich mich am meisten geärgert habe, vielleicht – Lehmann, der den Ball, wie von Tasci erwartet, locker hätte ablaufen können, Tasci, der weder zurückgespielt noch die rustikale Variante gewählt, sondern Träsch in Bedrängnis gebracht hat, oder Träsch, der ein Dribbling an der eigenen Eckfahne für eine gute Idee hielt. Oder dass Kuzmanovic gezeigt hat, dass er dirigieren will: sehr häufig sah man ihn mit ausgestrecktem Arm den Mitspielern anzeigen, wo sie den Ball hinspielen sollen – dumm nur, dass er mangels Alternativen in den allermeisten Fällen nur auf einen der Herren aus der Viererkette zeigen konnte. Oder dass die langen Diagonalbälle von Delpierre auf den rechten Flügel nicht nur ein ästhetischer Gewinn waren, sondern auch häufig ankamen – Gefahr ließ sich damit allerdings nicht heraufbeschwören, dafür waren sie dann doch zu lange unterwegs.

Nun ist es aber wirklich genug – lieber nochmal was vom Spielfeldrand, auch wenn ich mich wiederhole. Irgendwann zwischen der 75. und 80. Minute wurden, beim Stand von 0:1, einmal mehr Rufe “Gegen ALLE Stadionverbote” zum Besten gegeben. Mit Verlaub: das halte ich für großen Unsinn. Kann irgendjemand glauben, ernst genommen zu werden, wenn er so etwas fordert? Einen Freibrief für alle? Ohne zu differenzieren, wie man es noch vor einiger Zeit mit dem Motto “Gegen willkürliche Stadionverbote” völlig zurecht getan hatte? Freie Hand für Randalierer, Gewalttäter, Brandschatzer? Wollen wir das Ganze dann auf die gesamte Gesellschaft ausweiten und jegliche Sanktionen für Straftaten abschaffen? Oder der Einfachheit halber beim Fußball bleiben und demnächst “Gegen alle direkten Freistöße” oder “Gegen alle gelben Karten” skandieren?

Nochmal im Ernst: ich bin ein entschiedener Gegner von Sippenhaft und von willkürlichen Stadionverboten, die rechtsstaatliche Prinzipien verhöhnen. Und ich befürchte, dass genau dies auf einen nicht unerheblichen Anteil der derzeit gültigen Stadionverbote zutrifft. Aber will wirklich jemand behaupten, man müsse buchstäblich jeden in ein Fußballstadion lassen, egal welche Vergehen er sich in ähnlichem Kontext bereits zuschulden kommen ließ und welche Gefahr von ihm oder ihr ausgeht? Das kann niemandes Ernst sein.