Von Laienstadiongängern und Sitzplatznazis

Hätte ich meinen Körper verlassen und das Ganze von außen betrachten können, so wäre mir das Ganze wohl wie ein Trugbild vorgekommen. Nicht nur, dass ich in der Cannstatter Kurve saß, nein, vielmehr zählte ich zu denjenigen, die die vor uns Stehenden recht penetrant dazu aufforderten, sich doch bitte hinzusetzen. In meinem Kopf formte sich, ohne dass ich meinen Körper dafür hätte verlassen müssen, das Wort “Sitzplatznazi”, das ich den Adressaten unseres Anliegens gedanklich in den Mund legte, um damit mich selbst zu bedenken.

Was insofern nicht in Ordnung war, als es zum einen inhaltlich eine – wiewohl nicht zwingend abwegige – Unterstellung bedeutete; schließlich hatte keiner der wenig sitzenswilligen Herren explizite Beschimpfungen ausgestoßen – zumindest nicht mir gegenüber, in einem anderen Fall mag es so gewesen sein. Zum anderen hatte ich mit dem Nazi-Kompositum eine zwar sehr aussagekräftige und in ihrer Deutlichkeit nur schwer zu umschreibende, mir aber gänzlich unsympathische Formulierung gewählt: Rechtschreib-, Grammatik-, Irgendwas-Nazi. Nicht meins.

Offensichtlich fühlte ich mich also sehr unwohl in meiner Haut, sonst hätte ich mich vermutlich nicht so titulieren lassen wollen. War ja auch doof. Sitzen einfordern. Im Fußballstadion. In der Cannstatter Kurve. Wo ich sonst stehe. Wo vermutlich auch nicht wenige der nun zum Sitzen aufgeforderten sonst stehen. Für die wir vielleicht keine Sitzplatznazis, aber doch Laienstadiongänger gewesen sein dürften, die keine Ahnung von den Gepflogenheiten in Stadien im Allgemeinen und im Neckarstadion, ihrem Wohnzimmer, im Besonderen hatten, vermutlich. Auch das eine Unterstellung.

Und auch das so eine Wortbildung. “Laienbahnfahrer” lese ich immer mal wieder, bei Twitter hauptsächlich, gerne auch mal in Blogs. Und empfinde die dort transportierte Haltung als ziemlich überheblich. Was damit zu tun haben mag, dass ich gelegentlich mitbekomme, wie aufgeregt meine in der Bahn-Diaspora groß gewordenen und gebliebenen Eltern sind, wenn sie mal eine Bahnreise antreten und alle möglichen Befürchtungen hegen, was sie falsch machen könnten.

Laienbahnfahrer par excellence, quasi, und der Gedanke, dass sich Menschen bei Twitter über sie mokieren, weil sie den Wagenstandsanzeiger nicht richtig gelesen haben oder in ihrer Aufregung etwas zu laut telefonieren, um ihre nun doch bevorstehende Ankunft anzukündigen, ist mir, um es sehr vorsichtig auszudrücken, unangenehm.

Dass sich Laienstadiongänger- und Laienbahnfahrertum ganz gut vereinen lassen, wurde bereits im Zuge der Anreise zum Spiel deutlich, als die Bahnen übervoll, die Türbereiche brechend voll und die Gänge nur normal voll waren, was den einen oder anderen Eintrittswilligen zu Unmutsbekundungen gegenüber den in den Gängen lümmelnden bzw. den sich nicht aus dem Türbereich in die Gänge hinein bewegenden Herrschaften animierte: “Noch nie Bahn gefahren, wenn Fußball ist?”

Der selbstgefällige Tonfall ließ meine grundsätzliche Zustimmung zu seinem Begehr verblassen und verließ ihn auch nicht, als sich die Bahn am Ziel zusehends leerte und lediglich unsere Tür verschlossen blieb, weil nicht zuletzt der Profibahnfahrer die Lichtschranke blockierte. Oder wie auch immer das technisch gelöst ist. Ich schweife ab.

Zurück zu uns Laienstadiongängern. Die wir in der Cannstatter Kurve sitzen wollten. Weil wir Kinder dabei hatten, die auch was sehen wollten. Was einigen der vor uns Stehenden sehr egal war, und ich meine wirklich sehr egal, was wiederum einer der Gründe der Hauptgrund dafür gewesen sein könnte, dass ich ihnen so unschöne Begriffe wie Sitzplatznazi oder Laienstadiongänger in den Mund legte.

Und nein, wir hatten nicht explizit Karten in diesem Block bestellt, waren nicht vorgewarnt worden, hätten es nicht wissen müssen. Eine sitzplatzgenaue Auswahl war im Zuge des Bestellprozesses gar nicht möglich, es sei denn, ich war zu dumm, auch keine blockgenaue, de facto konnte man nicht einmal angeben, in welcher Kurve man stehen wollte, sondern lediglich eine Kategorie auswählen.

So saßen wir, eine zufällige Gemeinschaft, also da mit unseren Kindern, die ein Länderspiel sehen wollten, in aller Regel ihr erstes, und die beim Anpfiff faktisch nichts sahen, hinter einer Wand von Menschen, denen das sehr egal war, weil sie ja genug sahen, und vielleicht auch, weil man beim VfB da eben steht. Genau: beim VfB. Da war aber gar keine Porsche-Werbung an den Banden. Auch keine von Fanuc oder irgendeiner regionalen Bank auf der Anzeigetafel. Gastgeber war der DFB. Er hatte Sitzplätze ausgewiesen.

Hätte ich nicht gedacht, dass ich mal wegen sowas die Ordner holen würde. Hat aber ganz gut geklappt. Schöne Pointe übrigens, dass just nach deren Einsatz “Steht auf, wenn Ihr Deutsche seid” ertönte. Mal schauen, ob ich am Samstag in die Kurve darf.

Ach ja, Fußball war auch. Die Perspektive war ungewohnt, ich stehe normalerweise einen Tick höher, das Interesse der Kinder an Nebensächlichkeiten tat sein Übriges, meine Verärgerung über Nebensächlichkeiten erst recht. So bleibt mir in besonderem Maße der Umfang von Bastian Schweinsteigers Oberschenkeln in Erinnerung, zudem die Jagdszenen der chilenischen Offensive, die mich in ihrer Intensität an die Dortmunder Anfangsphase in Wembley erinnerten, Philipp Lahms ungewöhnliche Zahl an Fehlpässen, die lange Zeit völlig an mir vorbeigehende Anwesenheit von Toni Kroos, und die Pfiffe gegen Mesut Özil.

Das weiß dann doch jeder von uns Laienstadiongängern, dass man, wenn man bezahlt hat, auch meckern darf. Und eben pfeifen. Nicht zuletzt dann, wenn es um einen derjenigen geht, die es in Brasilien ganz besonders richten sollen, um einen, der gerade an einem schlechten Tag jene entscheidenden Bälle spielen soll, jenen einen womöglich an der Genialität schnuppernden Ball, der vielleicht ein dreckiges Tor, einen dreckigen Sieg bringt, ein dreckiges, im Zweifel auch als unverdient bezeichnetes 1:0. Der kann das ab, bestimmt.