Quervergleiche

Allzu viele Länderspiele habe ich in meinem bisherigen Leben nicht gesehen. Also vor Ort, im Stadion. Immerhin, ein EM-Finale (verloren) und ein WM-Halbfinale (gewonnen, von Frankreich) waren dabei. Ein paar Qualifikationsspiele, darunter eines im Handball, einige wenige Freundschaftsspiele, mehr nicht.

Mein allererstes Länderspiel sah ich erst spät, im März 1995, im Stadion an der Lansdowne Road in Dublin. Irland empfing Frankreich und war dabei ziemlich chancenlos, was meinem irischen Umfeld zwar nicht so recht gefiel, letztlich aber gar nicht so viel mehr als eine Randnotiz blieb. Auf französischer Seite blieb mir in erster Linie der auffallend agile Émile Ntamack in Erinnerung, der einen Versuch legte und zwei Kicks verwertete – die beiden einzigen seiner Länderspielkarriere, wie ich den unendlichen Weiten des Internets entnommen habe.

Genau: ich war beim Rugby, hatte viel Spaß und wenig Ahnung, und genoss die Atmosphäre. Und ja, ich zog schon damals den Quervergleich zum Fußball, ungefragt, quasi. Man sang, feuerte an, war friedlich – sowohl im Stadion als auch hinterher beim gemeinsamen Feiern. Klingt wie aus einer klischeebeladenen Sportsendungsfilmchen über Irland, oder Rugby, oder beides, und entsprach damals exakt meiner Wahrnehmung.

Den Großteil des Abends verbrachten wir im Jurys Hotel, wo eine ziemlich große franko-irische Party stattfand, deren Hauptattraktion in meiner spärlichen Erinnerung darin bestand, dass ein französisches Mitglied unserer Gruppe Éric Cantona täuschend ähnlich sah und sich regelmäßig leicht alkoholisierte Iren huldigend zu seinen Füßen warfen. Anhänger von Crystal Palace waren wohl nicht zugegen.

Zu jener Zeit hatte ich mich, man muss es wohl so sagen, vom Fußball ein bisschen entfremdet, nicht vom ehrlichen eigenen Fußball, wie ihn Martin Harnik so gerne erlebt, sondern vom anderen, großen. Die WM 1994 mag ihren Teil dazu beigetragen haben, andere Sorgen und Freuden junger Leute übten zudem Einfluss auf die Prioritäten aus – eine dieser Freuden war es schließlich auch gewesen, die mich damals hin und wieder gen Irland reisen ließ.

Und in meiner selbstgewählten Distanz war ich gewiss auch ein bisschen empfänglicher für die schönen Seiten des Rugbysports, Sie wissen schon, die Körperlichkeit, die rohe Fairness, der ausgeprägte Teamgedanke, der Respekt für die Schiedsrichter, … ach nein, vergessen Sie Letzteres, das nahm ich damals im Grunde gar nicht wahr.

Ob ich schon Fan gewesen sei, bevor Rugby cool war? Nun, zum einen war es immer cool, mancherorts, was eine billige Antwort ist. Zum anderen: nein. Klar, ich hielt mich fortan stets ein bisschen informiert, verfolgte die Turniere, und wenn mal was im Fernsehen kam, zu erträglichen Uhrzeiten, dann hab ich’s mir auch angesehen. So oft wie in diesem Jahr dürfte ich indes noch nie geschaut haben. Gemeinsam mit meinem Sohn, der eine gewisse Begeisterung entwickelt hat. Ohne dass ich ihn gleich im Verein angemeldet hätte. Aber ein Fan? Nein, das wäre übertrieben. Dafür kenne ich nicht mal die Regeln gut genug.

Wie auch immer: schön war sie, die WM. Und hübsch, wie sie auf Twitter begleitet wurde, offensichtlich von Menschen mit sehr unterschiedlich detailliertem Vorwissen. Regelfragen spielten eine Rolle, natürlich, die medizinische Betreuung während des Spiels, gelegentlich optische Aspekte, dann die Anlaufrituale der Kicker, … ok, das war ich, und nicht bei Twitter, sondern bei den Fünfzeilern:

Ein Anlauf-Ästhet aus Funchal
habe gestisch und mimisch nen Knall?
Guckst Du Rugby, mein Digga!
Ow’n Farrell und Dan Biggar!
CR Sieben? Ein harmloser Fall.

Womit wir erneut bei einem zentralen Element der Rugbybeobachtung wären: dem Fußball-Vergleich. Den ich damals, 1995, auch zog, ich hatte es angedeutet. Der nicht überraschen kann in einem vom Fußball geprägten und mit Rugby noch ein bisschen fremdelnden Umfeld, das manches noch einordnen muss.

Aber ganz ehrlich: beim zehnten Loblied auf den respektvollen Umgang mit den Schiedsrichtern wurde ich ganz allmählich porös, beim siebzehnten Hinweis auf die zum Glück fehlende Schwalben(un)kultur standen meine Ohren längst auf Durchzug, und der Begriff “Videobeweis” blieb bei Twitter schon ziemlich früh in meinem Filter hängen.

Gewiss, es ist vernünftig, sich anzusehen, was in anderen Sportarten vielleicht besser läuft, unabhängig von Bernhard Peters. Ich bin weit davon entfernt, ein Plädoyer für Schwalben oder Rudelbildungen zu halten. Aber manchmal nervt der ständige Querverweis, in seiner Häufigkeit, in seiner Penetranz. Den geschätzten Herrn @nedfuller hat es möglicherweise auch genervt, wenn auch mit anderer Schlussfolgerung:

Fairness. Sportsgeist. Super. Sieht man beim Rugby, und ja, es gefällt. Wieso ich dann nicht mehr Fußball schauen sollte, erschließt sich mir nicht. Da bin ich gerne inkonsistent. Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch. Rugby ist großartig. Fußball ist anders. Regeltechnisch, meinetwegen auch moralisch. Fußball ist großartig.

Und so war es mir eine große Freude, am Tag nach dem WM-Finale ins Fußballstadion zu gehen, mich über Fouls, Schwalben und Zeitspiel zu echauffieren, den Schiedsrichter in seiner Kartenvergabe für einseitig zu halten und dies auch kundzutun, und fast hatte ich ein bisschen Mitleid mit Darmstadts Luca Caldirola, den beim Torjubel ob seines vor der Linie abgewehrten Kopfballs erst nach einigen Sekunden die Erkenntnis ereilte, dass diese verdammte Torlinientechnik jeden Versuch, die Entscheidung des Schiedsrichters zu beeinflussen, obsolet machte.

Ansonsten bot das Spiel zunächst einmal das, was man erwarten durfte: einen Sieg gegen den Aufsteiger aus Darmstadt. Einen Torwart, der wieder einmal einen Elfmeter verursachte und sich außerhalb des Strafraums in Platzverweisgefahr begab. Vor Ersterem schützte ihn rückwirkend der Linienrichter, vor Letzterem die Kombination aus Körperbeherrschung und einem Vernunftschub. Und so wurde er in der zweiten Halbzeit zu dem Mann, der den Sieg in bemerkenswerter Weise festhielt. So kann’s gehen.

Erwarten durfte man auch die Rückkehr der beiden planmäßigen Sechser, die auch mal Achter sein mögen, der Herren Gentner und Dié. Doch Daniel Schwaab streckte den Kopf heraus und rief “Ich bin schon daa-ha!” So kann’s gehen. Also suchten sich die beiden neue Betätigungsfelder, etwas weiter außen, was insbesondere Serey Dié nicht sonderlich gut bekam (drüben beim Vertikalpass sahen sie eher Gentner in einer zu schwachen Rolle). Mir war er viel zu weit rechts, mal beim Verteidiger, mal als verkappter Außenstürmer, aber mit viel zu wenig Einfluss auf das Spiel und seiner Stärken in der Balleroberung beraubt. Vom erneuten Platzverweiswunschverdacht gar nicht zu reden. Das war nix. Also das andere nix, nicht gar nix. Aber nicht das, was ich von ihm erwarte.

Der Gedanke, dass sich Daniel Schwaab auf der Sechs festgespielt haben könnte, zählt nicht zu meinen liebsten. Auch wenn er sich gegen Darmstadt solide zeigte. Vermutlich wird der Trainer aber zumindest am Samstag in München noch daran festhalten. Und nein, ich wünsche mir nicht, dass er auf bittere Weise vorgeführt wird.

Vielmehr hoffe ich, dass Timo Werner und Filip Kostić nach diesem Spiel einen prominenteren Platz auf dem Münchner Einkaufszettel einnehmen werden. Was ein zweischneidiger Gedanke ist. Weiterhin wage ich zu hoffen, dass man hernach von einer erfolgreichen “Reifeprüfung” der Innenverteidigung sprechen wird. Dass Insúa seine Leistungen bestätigt, Klein aber nicht. Dass Tytoń und Dié durchspielen dürfen, Werner aber in der 88. mit Sprechchören der Fans und Kusshänden des Trainers verabschiedet wird.

Und dass dem Schiedsrichter respektvoll begegnet wird, selbstredend.

Da kann man Waden sehn …

Es gibt eine Menge guter Gründe, Martin Harnik zu mögen. Sei es der Umstand, dass es eine Freude ist, Interviews mit ihm zu sehen und zu hören (in guten wie in schlechten Phasen), sei es sein Engagement auf dem Platz, sei es die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Mir gefällt, dass er sich nicht scheut, sich auch einmal kritisch über das Verhalten der Fans zu äußern, ohne in das zu verfallen, was man gemeinhin mimimi nennt.

Ok, sein Torjubel reißt mich nicht zu Begeisterungsstürmen hin, auch sein Spiel gab in der aktuellen Saison nicht immer Anlass dazu. Was indes kaum Auswirkungen auf meine Grundsympathie hat. Natürlich mag ich es auch, um aktuelle Geschehnisse mit einzubinden, dass er eine klare Meinung zum Artenschutz im Fußball hat und vertritt, und ganz besonders mag ich in diesen Tagen: seine Stutzen.

Stutzen? Sagt man heute überhaupt noch Stutzen, oder hießen die formal nur zu jener Zeit so, als sie noch Stege anstelle von Fußteilen hatten? Wie auch immer, Sie wissen schon, jene Strümpfe, die in zunehmendem Maß die Knie der Spieler bedecken, zumindest aber die Scheinbeine. Keine Sorge, ich will jetzt nicht zu einem Overknee-Bashing ansetzen, ich habe mich im Grunde damit abgefunden – auch wenn ich zugeben muss, dass, wenn es einen Punkt gibt, an dem ich gerne in die verbreitete Kritik an Cristiano Ronaldo einstimme, es die von mir so empfundene (erstmals 2003, als er in Stuttgart Champions League spielte), einer genaueren Überprüfung aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Stand haltende, Einführung der Oberschenkelstutzen in den Fußball ist.

Abseits der Overkneehipsterfrage also scheint es mir heutzutage doch so zu sein, dass der gemeine Fußballspieler (bei den Spielerinnen kann ich es zugegebenermaßen nicht seriös einschätzen, die Stichprobe ist zu klein) seine Stutzen mindestens bis knapp unter die Kniescheibe zieht und während des Spiels auch Wert darauf legt, dass sie dort bleiben mögen. Ist ja auch nicht weiter verwunderlich. Man trägt von frühester Jugend an Schienbeinschoner, auch im Training, und wer im letzten Jahrzehnt einmal Jugendmannschaften trainiert oder eigene Kinder auf den ersten Vereinsfußballschritten begleitet hat, der weiß, dass allein das Längenverhältnis von Schoner und Beinen gar keine andere, beinfreiere Lösung zulässt.

Die Generation, die noch schonerfrei antreten durfte, hat sich aus dem aktiven Sport längst zurückgezogen. Im Profibereich sowieso, aber auch bei unsereinem muss man zumindest zu den Ü40ern gehen, um noch auf Leute zu treffen, die aus eigener Erfahrung von jenen Zeiten schwärmen, als man noch mit heruntergerollten Stutzen kicken durfte, auf Leute also, die Schienbeinschoner noch heute eher als störendes Übel denn als selbstverständliches Accessoire betrachten. So’n bisschen wie beim Sicherheitsgurt oder bei der Helmpflicht, ne? Vom V-Stil gar nicht zu reden.

So war es auch kein Wunder, dass speziell zu Beginn der neuen Zeitrechnung gerade von den langjährigen Verweigerern Schienbeinschoner getragen wurden, die bei wohlwollender Betrachtung knapp über den Knöchel reichten, um die lieb gewonnene Beinfreiheit nicht aufgeben zu müssen. Hatte was Archaisches, irgendwie. Hat irgendjemand, wenn er an Briegels Sportlerwaden oder Kaltz’ lange Rehbeine im Nationaltrikot denkt, Stutzen vor Augen, Schienbeinschoner gar? Oder wer wüsste noch, dass Littbarski 82 in der regulären Spielzeit die Schoner noch an und die Stutzen oben hatte? Eben.

Als es ums Ganze ging, waren sie unten. Ganz unten. Geht heute nicht mehr. Aber ums Ganze geht’s heute auch noch, manchmal. So am Mittwoch gegen Freiburg, und spätestens Mitte der zweiten Halbzeit lief Martin Harnik herum, als hätte er sich eine Zigarettenschachtel als Scheinbeinschonerattrappe in die Stutzen gesteckt. Zugegeben: kurzzeitig war ich versucht, mich zu bücken, um die eigenen Strümpfe hochzuziehen, des Phantomkribbelns an der Wade wegen. Doch von Minute zu Minute gefiel mir der ungewohnte Anblick, gefielen mir seine Waden besser, interpretierte ich die hängenden Stutzen als moderne Form des Ärmelhochkrempelns. (Ohne nach Ärmelhochkremplern vom alten Schlag rufen zu wollen.)

Antonio Rüdiger hatte die Stutzen oben. Dennoch machte auch er mir sehr viel Freude. Während des Spiels, klar. Ganz besonders aber auch im Moment des Schlusspfiffs, als er im Vollsprint, und ich meine im Vollsprint, auch wenn mir da die Verklärung einen Streich spielen mag, zu den Fans rannte, Alexandru Maxim im Schlepptau. Jenen Alexandru Maxim, dem gemeinsam mit Raphael Holzhauser die Aufgabe zugefallen war, in den letzten Spielminuten den Ball in einer Telefonzelle an der Eckfahne zu halten, und der es sich dabei nicht nehmen ließ, zum Rainbow Flick (ja, hab ich nachgeschlagen) anzusetzen. Gelang nicht, wie ihm auch zuvor der eine oder andere unnötige Fehler unterlaufen war. Wie er indes auf wirklich engstem Raum immer wieder den Ball behauptete, imponierte mir sehr, weshalb ich, obschon der Aussagekraft wie auch dem Zustandekommen von Benotungen gewahr, hiermit Beschwerde gegen die “3” der Stuttgarter Nachrichten einlege.

Zwei kurze Punkte noch: zum einen ziehe ich den Hut vor Bruno Labbadia. Wie der VfB die Freiburger, die in der laufenden Saison nach meiner Kenntnis nicht allzu oft überrascht wurden, in den ersten Minuten unter Druck setzte und mit langen Bällen und zielstrebigem Flügelspiel zu Chancen kam, war bemerkenswert und sah so aus, als stecke System dahinter. Wie nahezu im gesamten Spiel.

Zum anderen bin ich unverändert zuversichtlich, am 1. Juni Labbadias großes Interview in der Süddeutschen lesen zu dürfen. Da darf er sich dann gerne noch einmal über die bösen und böswilligen Berichterstatter beschweren. Und meinetwegen, ich gönne es ihm, danach noch den Pokalsieg mitnehmen. Natürlich sollte man sich seiner Sache nicht zu sicher sein und den Finalgegner keineswegs unterschätzen, genau wie damals gegen Cottbus, aber ein bisschen Demut dürfte der VfB noch im Köcher haben, dann wird das schon.

Bedauerlicherweise hat der Finalgegner in Thomas Müller einen Spieler, der, wenn es drauf ankommt, gerne ähnlich tief blicken lässt wie Harnik, wadenmäßig. Fifty-fifty also, würde ich sagen.

Rückblicksvorbereitungsstichworte (VI)

“Den Gomez hätte er nicht auswechseln dürfen. Grad gegen die Italiener. Man hätte ihm den Ball halt mal gescheit in die Gasse spielen müssen. Aber der Ötzil ist halt auch nicht so gut, wie es immer heißt. Beide Spanier eigentlich, der Khidera auch nicht. Hat man ja auch in der Analyse gesehen, mit dem Scholl. Der Khidera ist an der Mittellinie stehen geblieben, und der Italiener konnte ungestört den langen Ball spielen. Tut der doch immer, das weiß man. Den Podolski, ja, den hätte er draußen lassen müssen. Und den Khidera, den kannst nur hinten brauchen. Der Schweinsteiger war ja auch nur bei 80 Prozent. Den kannst draußen lassen. Soll halt der Müller dafür spielen, der gibt wenigstens Vollgas.”

(Sinngemäßes, weitgehend aber wörtliches, aus irgendeinem bayerischen Dialekt so halbwegs übersetztes Zitat, knapp 24 Stunden nach dem Halbfinale.)

Womit dann wohl alles gesagt wäre. Abgesehen von den Rückblicksvorbereitungs-“Stichworten” für den Sohnemann:

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J’accuse!

Ich klage meine Eltern an, nicht darauf vorbereitet gewesen zu sein, mich vor wild gewordenen Fähnschenschwenkern mit schwarz-rot-goldenen Utensilien zu schützen. Tatenlos zugesehen zu haben, wie mir eine schwarz-rot-goldene Hulakette um den Hals gelegt wurde, zugelassen zu haben, dass nicht nur ich, sondern auch meine kleine Schwester schwarz-rot-goldene Armbändchen trugen.

Ich klage meine Mutter an, den Horden zur Hand gegangen zu sein und ihren Kindern schwarz-rot-goldene Flaggen auf die Wange gemalt – und damit, dies zu ihrer Ehrenrettung, möglicherweise Schlimmeres verhindert – zu haben. Und meinen Vater, der sie gewähren ließ. 

Ich klage Vater und Mutter an, mir eine kindgerechte Schlafenszeit verwehrt und mich quasi genötigt zu haben, elf vergleichsweise ideenlosen Spaniern eben nicht bei ihrem als langweilig verpönten Kurzpassspiel zuzusehen, sondern bei etwas, das sehr gerne ein als langweilig verpöntes Kurzpassspiel gewesen wäre, tatsächlich aber nur selten über das Versuchsstadium hinaus kam. Ich klage sie darüber hinaus an, mich dann doch nicht wach gehalten zu haben, um wenigstens den Kitzel des Elfmeterschießens zu erleben (das zu sehen ich mir dann für den Folgetag und den Eintrittsfall vertraglich zusichern ließ – ich klage die deutsche Fußballnationalmannschaft an, nicht geliefert zu haben). 

Ich klage meinen Vater an, mich bei beiden Halbfinalspielen der “besseren Sicht” wegen in unmittelbarer Nähe von Jürgen von der Lippe platziert zu haben, dessen Weisheiten aus dem Gedächtnis löschen zu können mir auch nach vielen Jahren noch nicht vergönnt ist. 

Ich klage meinen Jugendtrainer an, mir jahrelang erzählt zu haben, dass es ab einem gewissen Niveau nicht mehr reiche, den Ball hoch und lang nach vorne zu schlagen, auf dass der Mittelstürmer der Abwehr davonlaufen und ein Tor schießen möge. (Wenn Passgeber und Stürmer gut genug und die Abwehraktivitäten hinreichend naiv sind, geht das auch noch in den ganz großen Spielen.)

Und ich klage meine Eltern an, meinem zunehmenden Eintauchen in das Turnier keinen Einhalt geboten und dann zugelassen zu haben, dass mein erstes Turnier eben nicht, wie bei Vattern, den erhofften Sieger fand – wofür ich natürlich auch Joachim Löw und seine Mannschaft anklage. So hatten wir ja wohl nicht gewettet, Freundchen.

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Vielleicht doch noch ein paar kurze Sätze zu Dingen, die ich einfach nicht verstanden habe. Und damit meine ich nicht die Aufstellung von Joachim Löw, auch wenn ich vor allem über Reus’ Nicht-  und Gomez’ Doch-Nominierung überrascht war, und auch wenn ich die Beweggründe hinter Kroos’ Hereinnahme zwar nachvollziehen, aber nicht daran glauben konnte, dass er dem direkten Duell mit Pirlo gewachsen sei. Ich würde nicht einmal so weit gehen, zu sagen, dass es die Lobgesänge auf Pirlo waren, die ich nach diesem Spiel nicht verstanden habe, aber ich gebe zu, dass ich sie nicht in diesem Maße angestimmt hätte. Zumindest nicht lauter als auf Montolivo, dessen Mutter übrigens …  ach, wissen Sie schon? Seltsam.

Nicht so richtig verstanden habe ich Steffen Simons andauernde Hinweise, noch in der gefühlten 44. Minute, dass Toni Kroos seine Außenposition einfach nicht halte, sondern zu sehr nach innen ziehe. Aber es ist wohlfeil, Steffen Simon taktische Fehleinschätzungen vorzuhalten, ich bitte um Entschuldigung.

Schwer verständlich ist es für mich auch, wenn Meireles einen Vier-gegen-zwei-Konter durch ein schlechtes Abspiel, Verzeihung, verkackt, und Cristiano Ronaldo bei Twitter reichlich Häme abbekommt, weil er kein Tor daraus gemacht hat. Oder dass es Leute gibt, die ihm vorwerfen, sich für den fünften Elfmeter gemeldet zu haben – er habe damit ja einzig und allein seinen Selbstdarstellungstrieb befriedigen wollen. Eine solche Argumentation erschließt sich mir schlichtweg nicht. (Und nein, mir gefällt sein Freistoßritual auch nicht. So ist das manchmal mit Ritualen.)

Was ich indes bestens verstanden habe, ist der einmal mehr wunderbare und dabei in seinem Wesen im Vergleich zu seinen sonstigen Einlassungen zur EM so ganz andere Text von @freval über Mario Balotellis Jubelpose und das, was die Feuilletons der Qualitätspresse daraus gemacht haben. Mit Hautfarbe und so. Sehr treffend auch der Quervergleich zu Eric Cantona – mir scheint lediglich, dass Andi Möller hier ein wenig kurz kommt.

Letzteres bitte ich im Übrigen nicht so ernst zu nehmen wie Frédérics eben genannten Text.

Das Schlusswort überlasse ich dann aber doch wieder meinem Sohn, dem ich im abklingenden EM-Frust ein paar pathetisch warme Sätze in den Mund lege:

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Abschließend aber danke ich meinem alten Herrn dafür, mir vor Augen geführt hat, dass es weder im Allgemeinen noch ganz besonders im Speziellen der EM 2012 unverdiente Siege und Sieger gibt. Vermutlich freute ich mich auf das Finale zwischen Italien und Spanien nicht ganz so sehr wie auf eines mit deutscher Beteiligung, was nicht zuletzt daran gelegen haben dürfte, dass kein Supermarkt Sammelkarten der spanischen oder italienischen Spieler angeboten hatte; gleichwohl fieberte ich dem letzten Spiel entgegen, wollte ich sehen, ob die Bezwinger der deutschen Mannschaft nun auch den Welt- und Europameister schlagen würden, ob Mario Balotelli die versprochenen vier Treffer erzielen und der gegen Deutschland von einem Herrn namens Simon zum Schwachpunkt erklärte Balzaretti erneut schwach genug sein würde, um nicht nur den gegnerischen Stürmer aus dem Spiel zu nehmen, sondern vorne auch noch torgefährlich zu werden. (Vater ließ mich wissen, dass man vor dem WM-Finale 1982 ähnliche Töne über den 18-jährigen Giuseppe Bergomi gehört habe.) Hey, wir sprechen vom EM-Finale! Hochamt!

Und ich danke ihm für seine Twitter-Basislektion: Nicht während eines Fußballspiels drauf schauen. Besser auch nicht danach.

Rückblicksvorbereitungsstichworte (IV)

Bin ja dann doch in ein ziemliches Loch gefallen, als am Sonntag um 18 Uhr kein Spiel auf dem Programm stand. Pünktlich um 5 hatten wir uns beim Gastgeber eingefunden, um uns auf das Spiel vorzubereiten und nebenbei ein paar Köstlichkeiten auszuprobieren, aber mal im Ernst: Wie soll man die Spannung so lange aufrecht erhalten? Ja, ich weiß, man hätte es sich denken können, das mit dem Anstoß, nachdem ja auch schon die Griechen und die Polen und die Russen und die Tschechen … Aber irgendwie hatte mich die Aufarbeitung der Geschehnisse in Gruppe A anderweitig beschäftigt, da blieb kein Platz für Uhrzeitüberlegungen.

Doch zurück zum Wesentlichen: Rückblickvorbereitungsstichworte für den Nachwuchs.

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Um gleich mal mit einer popkulturellen Referenz anzufangen: am 17. Juni 2012 wurde mir die Bedeutung der für mich damals aus FSK-Gründen noch unbekannten Redensart “You have officially been #porned” erstmals vor Augen geführt. Anderen auch. Von Cristiano Ronaldo, übrigens, der seinem Kapitänskollegen und mitunter als Geistesbruder gewürdigte Zlatan wohl doch noch das eine oder andere voraus hatte, beispielsweise die Qualität der Mitspieler. (“Wenn die Schweden den Wilhelmsson nicht spielen lassen, sind sie selber schuld” – um mal meinen alten Herrn zu zitieren, der über die Jahre hinweg eine nur schwer zu begreifende Begeisterung für den Dribbler mit der schicken Frisur entwickelt hatte.)

Zlatan und seine Wasserträger (unter diesem Namen sollen sie hernach über die Dörfer getingelt sein) waren an den Engländern gescheitert, die etwas überraschend Dado Pršo als Mittelstürmer aufgeboten hatten. (Nein, ich hatte Dado Pršo auch nicht gekannt, aber mein Vater war nicht davon abzubringen.)

Spanien und Kroatien hatten die passenden Rahmenbedingungen für das letzte Spiel in die Wege geleitet, die Iren alles dafür getan, ihren Fans einen gloriosen Auftritt zu ermöglichen, und Italien schon einmal die Tränendrüsen aktiviert für den Fall, dass besagte Rahmenbedingungen bei Spanien-Kroatien ihren Zweck erfüllen würden, ohne dabei an die Tränen zu denken, die Giovanni Trapattoni bei einem von ihm verschuldeten italienischen Ausscheiden vergießen würde. Ich wusste damals nicht einmal, ob auch er, wie sein durch die Welten bummelnder deutscher Kollege Hans-Hubert Vogts, nie einen Hehl daraus machte, das er sich eigentlich nach wie vor viel eher als Teil des Trainerstabs seines Heimatlandes sah.

Die bitterste Erkenntnis an jenem Wochenende war die, dass mein Lob der Anstoßzeiten (Sie wissen schon: Sandmännchen, Paula und Paula, …) verfrüht erfolgt war. Mit Beginn des dritten Spieltags waren nämlich die 18-Uhr-Spiele passé, alles weitere sollte sich tief in der Nacht ab 20 Uhr 45 abspielen. Mit der Konsequenz, dass ich die Spiele nicht mehr anschauen durfte und mein Vater regelmäßig gegen den Schlaf ankämpfen musste. In einer Wachphase erklärte er mir, dass es noch früher durchaus üblich gewesen sei, Fußballspiele bereits um 19. 30 oder 20.15 Uhr anzupfeifen und so auch dem einen oder anderen Kind Gelegenheit zu geben, wenigstens eine Halbzeit zu sehen. Die Championsleagueisierung des Fußballs habe jedoch auch in diesen Bereich unwiderruflich eingegriffen. So unwiderruflich man das halt damals einschätzen konnte.

Wie auch immer: Weder sah ich die Entscheidung in der Todesgruppe A, in der die russischen Fans bekanntlich an ihrer eigenen Erwartungshaltung gescheitert waren (oder so ähnlich, Herr Arshavin argumentierte da etwas verkürzt, wenn ich mich recht entsinne), noch konnte ich das niederländische Ausscheiden miterleben – was, um der Wahrheit die Ehre zu geben, weniger mit der Anstoßzeit zu tun hatte als damit, dass Deutschland parallel spielte. Lange Zeit hatte es übrigens so ausgesehen, als würden wir das Deutschland-Spiel mit einer überschaubaren Gruppe mehr oder weniger kompetenter Erwachsener verfolgen. Als mein Vater in seiner Intoleranz erkannte, dass sich ein Event zu entwickeln drohte, schützte er Müdigkeit vor. Meine. (So zumindest meine Interpretation, zugeben wollte er es nicht.)

Also sahen wir den deutschen Sieg, der bekanntlich in allererster Linie Mario Gomez’ Ferse zu verdanken war, in trautem Familienkreis. Ein bisschen ärgerlich war es schon, dass meine deutlich jüngere Schwester es irgendwie hinbekam, ihr Länderspieldebüt zu feiern – da hätte ich mir von meinen Eltern doch etwas mehr Konsequenz gewünscht, nicht erst zur Pause. Aber man muss ja auch gönnen können.

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Zugegeben: Der junge Mann mit aufgestecktem schwarz-rot-goldenem Iro und ebensolcher zum Rock gewickelter Fahne irritierte mich ein wenig. Aber natürlich hatte ich nur das Wohl meines Sohnes im Sinn.

Rückblicksvorbereitungsstichworte (I) (Vielleicht.)

Am Samstag sah mein Sohn sein erstes Länderspiel. Dänemark gegen die Niederlande, so halb. Nummer zwei folgte auf dem Fuße, jenes, auf das er seit Tagen, ach was: seit Wochen hingefiebert hatte. Sein Verständnis von Fußball ist noch sehr überschaubar, auf Gefühlsausbrüche seiner Eltern (abgestuft) folgt meist die Frage, was denn los gewesen sei, aber er erkennt, Panini sei Dank, die Spieler, freut und wundert sich zugleich, wenn schon wieder Joachim Löw im Bild ist, und stellt so kluge Fragen wie jene, warum der Kommentator bei Nani und Raul Meireles den Verein nenne, bei den meisten anderen portugiesischen Spielern aber nicht. Zum Glück frug er nicht nach Meireles’ Aussprache, von der ich nach wie vor nicht weiß, ob sein Name so ausgesprochen wird, wie die meisten Reporter meinen, ihn aussprechen zu müssen (“Mereiles”). Diese Dame hier meint wohl eher nicht, ich las aber auch schon anderes.

Ich hoffe natürlich sehr, dass er dereinst ähnlich verklärend auf seine erste Europameisterschaft zurückblicken wird wie ich auf jene von 1980. Auch wegen des Titelgewinns, klar; vor allem aber wünsche ich ihm, dass auch ihm die gerade erst erwachende Liebe zum Fußball lange erhalten bleibt – in welcher Form, sei dahingestellt. Vielleicht kommt er ja irgendwann sogar in die Verlegenheit – Gedankenvater mag das Wunschdenken des Kindesvaters sein –, seine Erinnerungen aufzuschreiben, in welchem Medium und aus welchem Grund auch immer. Und weil solche Rückblicke ja gerne mal unter verblassenden Bildern im Kopf oder unter nachgelesenen, im dümmsten Fall auch noch objektiven Erzählungen von Zeitzeugen leiden, nutze ich gerne die Gelegenheit, für den Sohnemann in Vorleistung zu treten und ihm ein paar Gedankenfragmente für seinen Blick zurück zu konservieren. Man manipuliert ja, wo man kann.

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Euro 2012? Natürlich erinnere ich mich. Polen und Ukraine. Die älteren Fortschschrittsverweigerer unter uns nutzten noch immer die althergebrachte Bezeichnung “EM” (für EuropaMeisterschaft) und träumten von den guten alten Zeiten mit vier oder acht teilnehmenden Mannschaften – dabei nahmen damals lächerliche halb so viele Nationen teil wie heute. Spanien ging als Topfavorit ins Turnier, die Deutschen wähnten sich auf Augenhöhe und interpretierten die sogenannte Hammergruppe (aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, nicht wahr?) als angemessenen Turniereinstieg. Tja.

Polen und Griechenland eröffneten das Turnier mit einem für die Griechen zunächst schmeichelhaft erscheinenden Unentschieden, für damalige Verhältnisse dem Vernehmen nach alte Russen spielten schlechte Tschechen an die Wand, der dänische Trainer trug Rudi Völlers Frisur auf. Ja, genau, der Rudi Völler, und nein, ich meine nicht seine Goldlöckchen oder die Tante-Käthe-Phase, sondern den silbern geplätteten Mittelscheitel. Mit Erfolg übrigens – die Dänen, die schon damals auf eine bemerkenswerte “EM”-Historie zurückblicken konnten, schlugen den dritten vermeintlichen Topfavoriten, die Niederlande, deren Mannschaft zu Turnierbeginn wieder einmal als nur bedingt harmonisch wahrgenommen wurde, der Spruch vom Egoland, das gegen Legoland verlor, hat seinen Ursprung in jenem Spiel.

Deutschland startete mit einem hart umkämpften Sieg gegen CR7s Portugiesen, den man nicht zuletzt Mats Hummels – der zuvor, aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, lange um die Anerkennung von Bundestrainer Löw hatte kämpfen müssen – und dem von ihm angeführten Abwehrverbund zu verdanken hatte, nicht zuletzt auch einem Torwart, der nebenbei noch Zeit hatte, sein Faible für die einarmige Faustabwehr zu kultivieren [Anmerkung: Verzeihung, als EM80-Veteran ließ es sich nicht vermeiden, diesen Querverweis anzudeuten].

Mario Gomez hatte auch einen gewissen Anteil, aber das durfte man damals nicht laut sagen. “The beautiful game” wurde zu jener Zeit eher im Sinne von “joga bonito” interpretiert, der Bundestrainer hatte die Öffentlichkeit informiert, dass man nur mit schönem Spiel etwas gewinnen könne, und Gomez spielte, welcher an Fußball Interessierte wüsste das nicht, eben nicht in jenem Sinne schön, Tore galten eher als notwendiges Übel.

Wobei ich einräumen muss, dass auch mein Vater, wiewohl schon damals ein Gomez-Fanboy fernab jeder Objektivität, seine Leistung in jenem Spiel sehr kritisch sah. Er beschäftigte sich zwar ein wenig mit der Frage, wer in höhrerem Maße unter wem leidet, das Mittelfeld unter einem sich schlecht ins Spiel einbringenden Stürmer oder der Stürmer unter nicht sehr zielstrebigen und nur selten ideenreich agierenden Mittelfeldspielern, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Gomez im Sinne des Spielflusses nicht gut gespielt hatte – was wohl in der Tat das schlechteste Urteil war, das man sich von meinem alten Herrn über Gomez vorstellen konnte. 

Jenes Spiel war übrigens auch die Gelegenheit, bei der der bis zu ihrem Konkurs jährlich aufs Neue in der Bundesligavorschau der Bild-Zeitung und daher fälschlicherweise Mario Basler zugeschriebene Spruch vom wund gelegenen Stürmer erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurde. Tatsächlich stammt er von Mehmet Scholl, der vor seiner Fernsehkarriere ein großartiger Fußballspieler gewesen war und sich wohltuend von anderen sogenannten TV-Experten abhob – Einschätzungen, die auch mein Vater teilte, so dass es ihn umso härter traf, dass auch Scholl seine Hauptkritik in einem von einer ganzen Reihe von Spielern bestenfalls durchwachsenen Spiel an gegen den allein schon historisch nächstliegenden Spieler richtete und sich in seinem Flow ein wenig von belastenden Faklten entfernte.

“Populismus!” rief der Vater emört aus, als Scholl Gomez nicht mehr nur jegliche Bereitschaft absprach, sich ins Spiel einzubringen, sondern ihm darüber hinaus unterstellte, nicht zu laufen, nicht nach hinten zu arbeiten. Es empörte ihn so sehr, dass er sich nicht entblödete [Anmerkung: Was!?], die Uefa-Statistiken nach Laufstrecken zu durchforsten und festzustellen, dass Gomez 8,8 Kilometer gelaufen war. In der Tat: deutlich weniger als Spieler auf einer vergleichbaren Position wie Robin van Persie mit seinen 10, 6 km, Nicklas Bendtner mit 10, 2 oder auch der moderne Robert Lewandowski mit 9,7.

Betrachtet man dann noch die vorzeitig Ausgewechselten und rechnet ihre Laufdistanzen hoch – wohl wissend, das das eine starke Vereinfachung darstellt –, so kommt vor allem Milan Baros, der bereits bis zu seiner Auswechslung in der offiziell 85. Minute über 10 km gelaufen war, auf errechnete 11,1 km, die früher ausgetauschten Postiga, Kerzhakov und Gekas auf 11,4 (!), 10,4 und 9,4. Da kann Gomez mit seinen 8,8 abstinken. Ok, man könnte jetzt natürlich seinen Wert auch noch hochrechnen, dann wäre man mit 10,3 mitten bei den Leuten, aber so weit wollen wir jetzt doch nicht gehen.

Denn ganz ehrlich: Mein Vater war damals ein wenig angefressen und hatte es schon zu jener Zeit nicht so mit wissenschaftlichem Arbeiten. Die Zahlen entstammten einer einzigen und nicht zu überprüfenden Quelle, einige Basisdaten (bspw. die jeweilige Nachspielzeit) lagen ihm nur in Auszügen vor, von Nettospielzeiten ganz zu schweigen, die lineare Hochrechnung (heißt das so?) ignoriert Aspekte wie ermüdungsbedingten Leistungsabfall oder den Umstand, dass in einzelnen Fällen die Auswechslung im Vorfeld besprochen worden sein könnte. Die Spielsysteme und Aufgabenstellungen mögen allen Parallelen zum Trotz unterschiedlich gewesen sein, und ohnehin sind Quervergleiche zwischen Spielen schwierig.

Und natürlich ist die bloße Laufleistung in Kilometern kein hinreichender Indikator, um Scholls These zu widerlegen. Vielleicht lief Gomez tatsächlich, wie vom Experten unterstellt, weder nach hinten noch zur Seite, sondern, nun ja, irgendwo anders hin halt, auf der Suche nach der sich öffnenden Straße. Man weiß es nicht.

Genau so wenig wie man übrigens weiß, ob Gomez nach dem abgepfiffenen Vorteil in der ersten Hälfte auch dann getroffen hätte, wenn Torwart und Abwehrspieler sich gewehrt hätten. Was man indes weiß: Er war da. Im Strafraum. Am Ball. Was man wiederum nicht weiß, sich aber vorstellen kann: wie die hiesigen Medien reagiert hätten, wenn sich Gomez wie der großartige Robin van Persie gleich zwei mal die Beine verknotet hätte, anstatt den Ball ins Tor zu schieben. 

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Oh, Entschuldigung, das ist jetzt ein bisschen lang geworden. Und vielleicht nicht in jedem Fall geeignet für einen Rückblick auf die EM 2012. Ich gelobe Besserung, Sohn!