Selbstbild als Ratte?

Nein, natürlich wird das Schiff nicht sinken. Und ich verlasse es auch nicht. Aber meine Spielstatistik in der laufenden Saison ist in der Tat erschreckend. Gefühlt, wie man so schön sagt, de facto führe ich gar keine Statistik. Der Eindruck, so gut wie gar kein Spiel im Stadion und noch weniger wenigstens live in der Fußballkneipe meines Vertrauens gesehen zu haben, dürfte jedoch nicht von ungefähr kommen.

Nun könnte man sagen, dass das ja in der laufenden Saison keine allzu große Entbehrung darstellen dürfte, mag vielleicht gar zu dem Schluss kommen, dass ich gerne verzichtete. Zumal die Liebste gerne mal die Macht-doch-eh-keinen-Spaß-sei-ehrlich-Karte spielt, wohl wissend, dass dieses Argument nicht zieht. Andere Argumente ziehen indes sehr wohl. Kindergeburtstage, zum Beispiel, in deren Verlauf man das tickerfähige Endgerät nicht aus den Augen lässt, oder auch anderweitige Familienfeiern, so wie jene vom Wochenende, die mich unterwegs ganz nebenbei an die großen Zeiten von OLI Bürstadt denken ließ.

Wieder andere Gründe waren weniger erfreulich und nicht weniger triftig, sodass die Quintessenz bleibt: ich habe nicht viel gesehen. Nur wenige der, wie ich heute las, 18 Gegentreffer in der letzten Viertelstunde, nur einen kleinen Teil der kurz vor Schluss abgegebenen paarundzwanzig Punkte, die, seien wir ehrlich, die frühzeitige Meisterschaftsentscheidung überhaupt erst ermöglicht haben.

Nicht dass das Zittern in der Nähe des Telefons erträglicher gewesen wäre als jenes im Stadion oder vor dem Fernseher. Ok, vielleicht doch: man sieht es nicht kommen. Auf der anderen Seite indes, auch nicht schön: man sieht es nicht kommen. Pest. Cholera. Sie wissen schon. Mit der Zeit entwickelt man Strategien. Kontinuierliches Auf-das-Display-Starren ist eine, scheinbar nonchalantes Ignorieren ab der 80. Minute eine andere, natürlich werden auch unterschiedliche Anbieter, Formate und Übertragungswege getestet, doch vergebens. Das einzige, was letztlich funktioniert, manchmal, ist ein komplettes Ausblenden, ein völliges Ignorieren des gerade laufenden Spiels. Was ja auch niemand will.

Mir scheint, ich habe den geraden Weg verlassen. Oder das, was möglicherweise ein roter Faden hätte sein können. Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass ich das tue, was auch in die Kritik geratene Trainer, Sportdirektoren und Präsidenten auf Nachfrage gerne mal zu tun behaupten: ich hinterfrage mich. Und im konkreten Fall die Reinheit meiner Stadionfernbleibemotivation.

Fast hätte ich geschrieben, dass ich mich “so’n bisschen” hinterfrage, aber die Lektüre der jüngsten Ausgabe des tödlichen Passes, also eines (vermutlich: des) Magazins zur näheren Betrachtung des Fußballspiels lehrte mich so manches über die “Generation Stückweit”, die sich in ihren subtileren Momenten eben nicht nur ein Stück weit, sondern auch ein bisschen selbst relativiert, und ja: touché! Ich zähle dazu, immer mal wieder. So zum Beispiel, entgegen meiner ursprünglichen Hoffnung, auch in meinem eigenen dort veröffentlichten Text, wo ich zu Protokoll gab, “ein bisschen stolz” auf einen Fußballverein gewesen zu sein. “Meinen” Fußballverein, nachgerade, aber das ist ein anderes Thema.

Immerhin: den einen oder anderen Fünfzeiler bekam ich ohne einschränkende Formulierungen hin, einer wurde von den tödlichen Passgebern auch per Twitterfoto verbreitet:

pass_fuenfzeiler_20140415

Natürlich hinterfragen sich übrigens auch Schiedsrichter. Genau wie Trainer, Sportdirektoren, Präsidenten, wie wir vorhin feststellten. Und wie der Autor dieser Zeilen, der sich bereits seit einigen Wochen fragt, ob es Zufall sein kann, dass er gerade in dieser wenig erquicklichen Saison so viele Spiele verpasst, oder ob er das eine oder andere Mal vielleicht doch ein bisschen bereitwilliger verzichtet als in früheren Jahren. Und ohne jeden Zweifel wird er diese Frage nie ohne jeden Zweifel beantworten können. Es sei denn, er bejahte sie.

Tut er aber nicht. Ganz im Gegenteil: es tut mir im Herzen weh, und das hat erst einmal nichts mit der möglicherweise in absehbarer Zeit sehr begrenzten Anzahl an Bundesligaspielen im Neckarstadion zu tun, am Sonntag gegen Schalke nicht im Stadion sein zu können, sondern tatenlos irgendwo an einem Fernseher, per Hörfunk oder gar die Augen starr auf den Ticker gerichtet verfolgen zu müssen. Und wir alle wissen, dass die Formulierung schon ihre Richtigkeit hat. Denn selbstverständlich sind wir im Stadion nicht tatenlos, sondern können Tore qua Willenskraft erzielen oder verhindern.

Was wiederum die Frage aufwirft, ob ich nicht doch irgendwie (da ist sie wieder, die Generation Stückweit) eine – tatenlose – Ratte bin, wenn ich nicht hingehe.