Ein Jammer

Lieber Mehmet Scholl,

seien wir ehrlich: als offene Briefe verkleidete Blogtexte sind Quatsch. Sie geben vor, sich an prominente Menschen zu richten, zielen letztlich aber doch nur darauf ab, ein paar herumlungernde Stammleserinnen und -leser zu unterhalten, indem man, in der Regel, deren Erwartungen erfüllt, oder, seltener, sie auch einmal zu überraschen versucht. Der Prominente wird das Geschriebene niemals zu lesen bekommen, der Autor aber hat es ihm gezeigt.

Wobei: eigentlich will ich es Ihnen ja gar nicht zeigen. Ich mag Sie schließlich. Schon lange. Sie sind unwesentlich älter als ich, gerade mal ein Fußballjahr, zumindest nach damaliger Rechnung, als wir jung waren und Jugendmannschaften noch nicht nach Kalender-, sondern nach Schuljahren eingeteilt wurden. Damals wirkte der Relative Age Effect noch zugunsten der im zweiten Halbjahr geborenen Nachwuchshoffnungen, also für Sie und gegen mich, und wer weiß, ob nicht andernfalls Sie … ich … ach, Verzeihung, ich schweife ab. Was ich sagen wollte: ich habe Ihre Laufbahn recht genau verfolgt, seit Sie die große Bühne betraten. Und ja, auch Karlsruhe ist schon eine ziemlich große Bühne.

Damals hätte ich Sie vermutlich geduzt, und wenn ich ehrlich bin, tue ich das auch heute noch, in Ihrer Abwesenheit, in der dritten Person, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mittlerweile sind wir erwachsen und seriös geworden, und ich finde das “Sie” ganz angemessen. In Sachen Anrede bin ich indes bei “lieber” geblieben und hoffe, das ist in Ihrem Sinne. So ein “sehr geehrter” schafft dann ja doch eine ziemliche Distanz, die ich so nie empfunden habe. Wobei: Sie wollten ja irgendwann mehr Distanz. Und haben sie erfolgreich aufgebaut.

Doch zurück zum Sport. Ich fand das immer ziemlich schick, was Sie auf dem Platz gemacht haben, in Karlsruhe wie in München, und wie Sie diesen anderen kommenden Großen des Weltfußballs, den Herrn Sternkopf, in den Schatten gestellt haben, das war schon nach meinem Geschmack. Etwas weniger erquicklich ist, verzeihen Sie, wenn ich es so offen anspreche, Ihre WM-Bilanz, und dass Herr Vogts gerade Sie im EM-Finale 1996 ausgewechselt hat, werde ich ihm vermutlich nie verzeihen. Ich werde ihm deswegen keinen offenen Brief schreiben, was sollte ich auch sagen, der Erfolg gab ihm ja recht, aber mit the beautiful game hatte das nichts zu tun.

Zugegeben: den Spruch mit den Grünen und dem Baum fand ich noch nie sonderlich lustig, aber abgesehen davon hat mir Ihr Schalk auch abseits des Spielfelds meist recht gut gefallen. Klar, Sie gefielen sich auch in der Rolle, damals, als wir noch nicht beim seriösen Siezen angekommen waren, und wollten Erwartungen erfüllen, doch irgendwann hatte sich das dann erledigt. Ich würde nicht von Altersweisheit reden wollen, aber Ihre Außendarstellung veränderte sich schon sehr, ist ja hinlänglich erzählt, und irgendwie erinnerten Sie mich in dieser Zeit immer auch so ein bisschen an Andre Agassi, unabhängig vom Haarwuchs.

Ähnlich wie bei Agassi war mir auch Ihr sportliches Spätwerk eine große Freude. Es fiel in eine Zeit, zu der es nicht allzu viele deutsche Spieler gab, die in der Lage waren, in einem Dribbling zu bestehen, zumindest nicht gegen gut geschulte Verteidiger, wie man sie im internationalen Fußball vorfand, und da fielen Sie auch als Teilzeitarbeiter ganz besonders auf, dem langjährigen Sympathisanten sowieso. In diese Zeit fiel wohl auch mein Kontakt mit dem Customer Relationship Management des FC Bayern München: ich hatte einem guten Freund ohne jeden Skrupel ein Scholl-Trikot zukommen lassen. Dass ich seither immer mal wieder Post von Herrn Rummenigge bekomme, würde ich nicht auf der Habenseite unserer Beziehung – also Ihrer und meiner – verbuchen.

Danach vergrößerten Sie die Distanz weiter. Gingen kegeln, ohne allzu sehr damit zu kokettieren. Mir gefiel das. Nicht das Kegeln, das ist mir egal, aber dass Sie sich erst einmal ein bisschen rar machten. Und souverän – was waren Sie souverän! Selbst als Sie dann doch zurück ins Rampenlicht traten, bei der ARD, blieben Sie ziemlich lässig. Sie nahmen sich einen eigenen Stil heraus, modisch wie sprachlich, nebenbei auch musikalisch. Der eine beinhaltete für meinen Geschmack zu zugeknöpfte Hemden, der zweite nutzte sich ein bisschen ab. Manchmal steckte arg viel Netzer und Delling drin, fast schon Boerne und Thiel, einfach zu viel gewollte Witzigkeit. Regelmäßig auch Witz, dann war’s schön, und ist es noch. Ungeachtet der Sidekicks. Den Musikstil besprechen wir ein andermal.

Vielleicht hört man heraus, dass ich Sie immer noch ziemlich klasse finde, mich aber auch manchmal geärgert habe. Über Ihre wohlfeile Zuspitzung der latenten Kritik an Mario Gomez, Sie erinnern sich, oder über die zu enge Hose, die Sie auf der Waldau beim einzigen Spiel trugen, in dem ich Sie als Trainer erlebte. Aber das ist vielleicht gar nicht so relevant. Insgesamt blieb ich schon auf Ihrer Seite. Selbst dann noch, wenn professionelle Taktikerklärer Ihre Analysen auf Stammtischniveau verorteten. Vielleicht auch deswegen.

“Souverän” nannte ich Sie vorhin, von der nötigen Distanz sprach ich. Ich schrieb Ihnen die Fähigkeit zu, Dinge einzuordnen, Prioritäten zu setzen, hielt und halte Sie für einen denkenden Menschen.

Und so empfinde ich es als Beleidigung meiner Intelligenz und der von Millionen anderer Fernsehzuschauer, und explizit auch als Beleidigung Ihrer eigenen Intelligenz, wenn Sie sich nicht entblöden, all diesen Menschen die hundertfach durchgenudelte und dabei nicht wahrer gewordene Mär aufzutischen, dass Doping im Fußball nichts bringe. Wenn Sie uns wider besseres Wissen die Sache mit der zu hohen Komplexität erzählen wollen. 

Es entsetzt mich, dass sie zu glauben scheinen, sportinteressierte Menschen ließen sich nach Jahrzehnten der Dopingaufklärung, nach Lance Armstrong, Marion Jones und Johann Mühlegg, nach österreichischen Langläufern, italienischen Fußballmannschaften und deutschen Radfahrern noch immer für derart dumm verkaufen.

Mal ganz davon abgesehen, dass mich diese Bei-uns-ist-alles-anders-Haltung in allen möglichen Lebensbereichen ankäst, weil “wir” anders sind, toller, komplexer, individueller, unvergleichlicher: die Vorstellung, dass Substanzen, die Sportlerinnen und Sportlern verschiedenster Disziplinen helfen, schneller wieder fit zu werden, länger belastbar zu bleiben, sich rascher zu erholen, und dass Wirkstoffe, die einen schneller, ausdauernder, schmerzunempfindlicher werden lassen, einem Fußballspieler ob der Komplexität des Spiels leider nicht helfen würden, ist beinahe so bizarr wie der Gedanke, dass Sie ernsthaft glauben könnten, was Sie da gesagt haben.

Und, mal im Ernst: “jede Menge Dopingkontrollen”? Seit wann ist das denn wieder ein valides Argument? Und “Medikamente für Kinder”? Mit so einem billigen kleinen Spruch wollen Sie uns abspeisen? Da hätte ja noch nicht mal Delling gelacht.

Sehr geehrter Herr Scholl, es war wirklich schön mit uns. Und vielleicht wird es das auch wieder, wenn Sie irgendwann diesem Geheimbund abgeschworen haben, wo nicht sein kann, was nicht sein darf. Für den Moment ist meine Zuneigung eine ziemlich enttäuschte.

Wenn ich es mir recht überlege, würde ich es Ihnen, den einführenden Ausführungen zum Trotz, vielleicht doch ganz gerne zeigen. Wo der Barthel den Most holt, meinetwegen. Oder zumindest, wie enttäuscht ich bin.

Ja, meine Enttäuschung ist irrelevant, für Sie, für die Fans, für die paar Leser hier, bald auch für mich. Aber ich würde schon gerne schreiben, drohen geradezu, dass der Fußball und seine Exponenten irgendwann einmal von ihrem hohen Ross herabsteigen müssen, weil sie sonst … weil sie … weil er … weil die mündigen Fans … ach, es wird ihm ja eh nichts geschehen, und Sie werden weiterhin so tun dürfen, als sei der Fußball nicht nur der zweifellos schönste Sport der Welt, sondern auch der zweifelhaft sauberste, besonderste, unvergleichlichste. Es ist ein Jammer.

 

Mit Grüßen
Heinz Kamke

Äpfel und Birnen. Und ein bisschen Rosinenpickerei.

Kennt man ja, nicht wahr, diese unerwartet und rasch reifende Einsicht, dass man einer anderen Zeit oder Welt oder auch einem anderen Planetensystem angehört. Ok, möglicherweise hat man auch nur etwas anders gelagerte Prioritäten; dennoch verfestigt sich ein bis dahin kaum mehr als latent vorhandenes Gefühl der Andersartigkeit.

So erging es mir zuletzt am vergangenen Freitag, in der Fußballkneipe meines Vertrauens. Ich war umgeben von netten jungen Leuten, vor Spielbeginn sagte mir einer, der Rest seiner Comunio-Spielrunde (heißt das so?) komme gleich, was er dann auch tat. Um den jungen Leuten zu zeigen, dass ich gar nicht so alt und unbeleckt bin, wie ich möglicherweise aussehe, frug ich scheinbar nonchalant nach, ob Comunio denn nicht böse und verdammenswert sei angesichts der jüngst eingegangenen Partnerschaft mit der ZEITUNG, wie der literarisch bewanderte Herr @bimbeshausen aus gutem Grund zu sagen pflegt, und landete einen Wirkungstreffer.

Vielleicht nicht bei meinem direkten Gesprächspartner, der – wiewohl ein bisschen beeindruckt, wie mir schien, und vielleicht auch ein wenig unsicher, weil er allem Anschein nach auch nur die Überschrift gelesen hatte (oder, wie ich, die Tweets von @surfin_bird) – Bescheid wusste, wohl aber bei seinen Kollegen, die sich erst einmal informieren mussten. Nicht darüber, wer oder was die ZEITUNG sei, jenen Schlenker hatte ich weggelassen, aber über deren unheilige Allianz mit Comunio.

Wie auch immer: ich hatte es also mit einer Gruppe Comunio-SpielerInnen zu tun, was a priori (und rückblickend nicht zu unrecht, wie ich gerne betone) auf Fußballsachverstand hoffen ließ und zudem, im Sinne eines bunten Fußballabends, eine möglicherweise gelungene Ergänzung zum nicht uneingeschränkt nüchternen und die eine oder andere krude Theorie vertretenden Nachbartisch sein könnte. Wobei: vielleicht sind ja auch meine Theorien krude. Oder gar abwegig.

Wie komme ich darauf, dass Ibrahima Traoré in den ersten Saisonspielen eine der wenigen halbwegs positiven Erscheinungen gewesen sein könnte und nicht, wie ein Herr sinngemäß meinte, ein in blindem Aktionismus und ohne jede Struktur durch die Gegend rennender junger Mann, “genau wie der Kaba”, der dann halt mal Glück habe, wenn einer seiner stets blind in die Mitte gespielten Bälle von einem Gegner dumm ins eigene Tor abgefälscht werde? Ich schwieg und dachte mir meinen Teil, andere widersprachen kurz und fassten rasch den Entschluss, sich ihren Teil fürderhin ebenfalls nurmehr zu denken.

Die Comunisten (Darf man das sagen? Ist das pc?) hielten sich heraus, diskutierten ihrerseits über studienrelevante Themen und gähnten – zurecht – ob des überschaubar attraktiven Spiels des VfB in Berlin – die Formulierung ist keine ganz zufällige, tatsächlich war in erster Linie das Spiel des VfB eher unattraktiv, während sich die Hertha durchaus ansehnlich präsentierte. Der VfB ließ recht viel von dem vermissen, was ihn zwei Wochen zuvor in Hoffenheim insbesondere in der Balleroberung und der Vorwärtsbewegung ausgezeichnet hatte. Die erste (und einzige) Chance der ersten Halbzeit hatte man kurz vor deren Ende, als Kraft in brillanter Manier einen Kopfball von Gentner über die Latte lenkte, was bei allen Anwesenden ein lautstarkes Aufstöhnen zur Folge hatte. Also, nun ja, bei fast allen:

“Jaa! “Kraft hielt die Hertha mit einer großartigen Parade im Spiel”, das gibt Punkte!”

Das Zitat ist ein sinngemäßes, möglicherweise aufgrund meiner Ahnungslosigkeit in Sachen Comunio inhaltlich nicht ganz treffendes, aber ich setze darauf, dass mich die gemeine Leserin versteht. Andernfalls erleichtert möglicherweise mein folgendes Selbstzitat das Verständnis:

Man mag entgegnen, vermutlich treffend, dass diese Reaktion doch eine normale gewesen sei, junge Leute, Distinktion, Provokation, das Positive sehen, Sie wissen schon. Vielleicht tat ich meinen Tischnachbarn ja wirklich unrecht mit meinem stummen und, streng genommen, unbewegten Kopfschütteln. Und doch: sie ist mir fremd, diese Reaktion. Der junge Mann hatte sich bis dahin sehr eindeutig als VfB-Fan zu erkennen gegeben.

Irgendwann hörte ich die Legende, Günter Netzer tippe immer gegen die ihm näherstehende Mannschaft, um wenigstens einen Erfolg feiern zu können. Ich weiß nicht, ob Netzer das wirklich jemals sagte oder diesen Ausspruch gar prägte, und ich weiß natürlich, dass ihn Gott und die Welt in der einen oder anderen Situation verwendet haben. Für mich bleibt er dennoch immer mit Netzer verbunden, was hier nun wirklich nichts zur Sache tut, mir aber die Gelegenheit gibt, mir die Replik von Gerhard Delling vorzustellen und irgendjemandem für Mehmet Scholl und Matthias Opdenhövel zu danken. Man möge mir diesen unsachlichen Einschub nachsehen, auch und gerade in Florenz.

Ich kann mit der Netzer zugeschriebenen Haltung nicht recht umgehen. Bei meinem Kicktipp würde der VfB, so ich noch mittippte, immer mit mindestens 90 Punkten Meister, gerne auch mal mit 102. Es gelingt mir nicht, und es gelänge mir wohl auch dann nicht, wenn ich es wollte, mich gegen “meinen” Verein zu positionieren, mich über Gegentore oder herausragende Paraden des gegnerischen Torwarts zu freuen. Ich kann sie würdigen, klar, tue das auch, aber freuen? Jubilieren gar? Nein. Sage ich jetzt. Vor ein paar Wochen, als es um die Zukunft von Bruno Labbadia im Verein ging, konnte ich mich noch sehr gut mit dem Gedanken anfreunden, an einer schlechten Leistung des VfB, an einer Niederlage und den möglichen Konsequenzen Gefallen zu finden. Äpfel mag ich übrigens lieber als Birnen.

Vielleicht hätte ich es beim eben zitierten Tweet belassen sollen. Ich war tatsächlich sehr irritiert, bin es noch, aber das war’s dann auch. Bestimmt kann man auch gleichzeitig Comuniospieler und ein guter Mensch sein. Vielleicht sind Comuniospieler auch ganz generell die weitaus besseren Menschen. Wenn sie bloß nicht gegen die eigene Mannschaft …  ach komm, jetzt hör’ halt auf! Irgendwie lassen mich Managerspiele an Rosinenpickerei denken. Krude Idee, ne? Gedankenfreiheit des Ignoranten.

Später war der bejubelte Kraft nicht mehr zu jedem Zeitpunkt ganz so bejubelnswert, fand ich. Was mir, zugegeben, ein innneres Irgendwas war. Nicht dass daraus ein Tor entstanden wäre, das entsprang einer ganz normalen Standardsituation, Maxim und Gentner, kennt man ja, ähem, und doch stand der überragende Torwart dann eher auf der anderen Seite. Bisschen schade, dass ihn, Sven Ulreich, keiner für sein Team verpflichtet hatte.

Womit wir wieder beim einführend gestreiften Fußballsachverstand wären: ich Ahnungsloser hätte ihn auch nicht genommen. Tja. Und würd’s wohl auch weiterhin nicht tun. Also nicht bei Comunio, es ist zu unrealistisch, dass ich da mitmache, aber eben auch nicht als Bundestrainer. Auch wenn sich jetzt schon Uli Stein für ihn “als Teil der WM-Besetzung” stark macht. Vermutlich denkt er dabei gar nicht ausschließlich an die Leistung, sondern auch an die innere Balance des Teams und so.

Vielleicht doch noch ein weiterer Satz, auch wenn das Spiel bereits so lange zurückliegt, dass sich niemand mehr daran erinnert: Antonio Rüdigers Spiel war eine Augenweide. Hätte ich so noch nicht erwartet. Und nicht einmal der Kaba-Sager hatte etwas auszusetzen. Ob mich das eher zweifeln lassen als bestätigen sollte?

Der Trainer? War da. Sachlich. Unaufgeregt. Auch in der Nachbetrachtung. Mit dem nötigen Glück. Gefällt weiterhin.

Am Sonntag gegen Frankfurt. Von denen hab ich keinen in meiner Mannschaft. Schön. Auch wenn ich Rode sofort nähme.

Generationenfrage

Die ARD hat mich positiv überrascht am Mittwoch. Sie wissen schon, da war dieses Fußballspiel gegen Spanien, das die deutsche Nationalmannschaft erneut mit 0:1 verloren hat. Aber ich wollte ja eigentlich etwas zur ARD sagen. Bzw. zunächst zu Günter Netzer, der in seinem vermutlich vorletzten Einsatz als ARD-Experte noch einmal erahnen ließ, wieso die Kombination Netzer/Delling in ihren ersten Jahren so beliebt, so erfrischend, so anders war als das, was man davor im deutschen Fernsehen gekannt hatte. Also bevor die Kabbelei Selbstzweck war, bevor wir zum hundertsten Mal Variationen von “Sie waren doch eh ein Standfußballer” auf der einen und “Sie haben ja überhaupt keine Ahnung” auf der anderen Seite gehört hatten. Als Netzers nüchterne Analysen im Mittelpunkt standen und nicht deren Inszenierung durch Stichwortgeber Delling. Nüchtern? Wenn ich richtig gehört habe, hat Netzer zuletzt mehrfach “wir” gesagt, wenn er von der deutschen Mannschaft sprach – das gab’s früher doch nicht, oder?

Zurück zu Mittwoch: ich fand Netzers fassungslosen Blick großartig, als Gerhard Delling ernsthaft glaubte, eine abweichende Meinung vertreten zu müssen, nachdem der Bundestrainer und Netzer selbst die Großchance von Toni Kroos bzw. dessen mögliches Fehlverhalten gleich bewertet hatten. Nur ein Detail, klar, aber solche Dinge werde ich vielleicht sogar ein wenig vermissen. Richtig positiv hat mich derweil die Entscheidung der ARD gestimmt, das wichtigste von der ARD übertragene WM-Spiel nicht von Herrn Simon kommentieren zu lassen, sondern von Tom Bartels, dem meines Erachtens weitaus kleinsten Übel bei öffentlich-rechtlichen Fußballübertragungen. Ich weiß nicht, ob das an irgendeiner Quotenregelung lag, oder vielleicht doch daran, dass einmal jemand die Zuschauer gefragt haben könnte, was sie von Herrn Simon halten.

Wie auch immer: Tom Bartels machte seine Sache gut, wenn auch glottal [ Grüße an @gnetzer 😉 ], und er widerstand sogar lange der Versuchung, vor der Zeit die Zukunft dieser deutschen Mannschaft herbeizureden. Zwar ließ er immer mal wieder anklingen, dass das Team noch sehr jung sei, verband dies aber stets mit dem Hinweis, dass sich die Chance eines WM-Halbfinals nicht allzu oft ergebe, unabhängig vom Alter, und dass man sie natürlich nutzen sollte. Bei Toni Kroos indes spielte das Alter dann doch ein Rolle: vielleicht wäre es für ihn ja zu früh gekommen, wenn er in diesen jungen Jahren durch den Führungs-(und dann vielleicht auch Sieg-)Treffer gegen Spanien zum Helden geworden wäre. Für Toni Kroos. Zu früh. Da hat er ja Glück gehabt.

Letztlich hat man mit 0:1 verloren. Verdient. Die Mannschaft hat es nicht geschafft, dem Europameister und WM-Topfavoriten ihr Spiel aufzuzwingen. Ein Spiel, das uns alle begeistert hatte. Ein Spiel, von dem nur noch die Älteren unter uns glaubten, dass eine deutsche Nationalmannschaft so spielen könne. Ein Spiel, das meines Erachtens weitaus besser ist als das, was die bis dato zutage getretenen Fähigkeiten der einzelnen Spieler erwarten ließen. Ein Spiel, das ganz offensichtlich die viel zitierte Handschrift eines Trainers trägt. Meinetwegen auch eine Philosophie, deren Bedeutung Martin Blumenau -wenn auch vor dem Spanien-Spiel – so großartig beschrieben hat. Dieser Trainer heißt nicht Louis van Gaal, auch wenn er Joachim Löw sicherlich den einen oder anderen Gefallen tat.

Sicher, es mag nicht nur so sein, dass die Mannschaft es nicht schaffte, dem Gegner ihr Spiel aufzuzwingen. Möglicherweise ist es auch dem Trainer nicht gelungen, die Mannschaft dahin zu bringen, dass sie tatsächlich so sehr von ihrer Stärke überzeugt war, wie sie zwischendurch schien. Schade. Ich sähe es gerne, wenn dieser Trainer versuchen würde, die nächsten Schritte mit dieser Mannschaft zu gehen. Denn natürlich müssen weitere Schritte folgen. Natürlich macht Platz 3 nicht glücklich. Aber daran kann man arbeiten, die sportliche Tendenz stimmt. Vielleicht hätte man für das Halbfinale aber auch Klaus Toppmöller engagieren sollen. Oder Christoph Daum. Hätte ein mutigeres Auftreten der Spieler befördert.

Um nicht falsch verstanden zu werden: ich hätte mir auch eine das Spiel bestimmende deutsche Mannschaft gewünscht. Und ich hielte es für zu kurz gesprungen, nur die Stärke der Spanier dafür verantwortlich zu machen, dass es nicht so kam. Vermutlich haben die Trainer in Sachen Spielvorbereitung und wohl auch Aufstellung nicht alles optimal gelöst. Aber sie hatten eine Mannschaft geformt, der man es endlich wieder zutrauen konnte, diese Herausforderung auf Augenhöhe anzunehmen und möglicherweise verdient zu bestehen. Oder wie der geschätzte Rob Alef schrieb:

Im Halbfinale von Durban waren die Spanier wieder die besseren Spanier, aber es ist nicht so schlimm, wenn von zwei überdurchschnittlichen Mannschaften die bessere gewinnt.

Und wie komme ich jetzt zurück zu Tom Bartels? Zu Toni Kroos, der nicht zu früh zum Helden werden soll? Und das zu einem Zeitpunkt, da man die Zeiten hinter sich glaubte weiß, als der 24-jährige Jeremies der Benjamin im deutschen Team war, während bei Frankreich die Herren Henry und Trezeguet (beide 20), bei England der 18-jährige Michael Owen Leistung trugen. Nein, 1998 soll nicht das Thema sein. Vielmehr geht es um die Sorge, dass ein Erfolg “zu früh kommen” könne. Ein entscheidendes Tor. Ein Weltmeistertitel. Oder im Kleinen: ein Aufstieg. Und wenn es nur aus der Kreisliga ist.

Was für ein Blödsinn. Man muss die Chancen ergreifen, wenn sie sich bieten. Aufsteigen. Tore schießen. Weltmeister werden. Oder zumindest den Europameister schlagen. Da kann der aktuelle Kader noch so jung und talentiert, die Mannschaft noch so unerfahren, vielversprechend und mit Juniorentiteln dekoriert sein: eine Garantie auf künftige Erfolge gibt es nicht. Ja, das ist eine Binsenweisheit. Und doch wuchern die Gräser nicht wild genug, um beispielsweise die “Morgenpost” oder die “Welt” davon abzuhalten, von der “Goldenen Generation” zu schreiben. Zu der zumindest bei der Welt auch Arne Friedrich zählt…

Die goldene Generation also. Ok, von der spricht man in Spanien auch. Nicht ganz zu Unrecht. Der Inbegriff goldener Generationen allerdings ist die um Luís Figo, Rui Costa, Vitor Baía, Pauleta und Nuno Gomes, die es unter diesem Begriff auch in die Wikipedia geschafft hat und in ihrer Glanzzeit… äh, was genau gewonnen hat? In England sprach man auch von einer goldenen Generation. Frank Lampard, Steven Gerrard und John Terry zählen zu ihren Protagonisten. Sowohl auf Vereins- als auch auf Nationalmannschaftsebene waren sie ähnlich erfolgreich wie jene goldene Generation, die von Edgar Davids und Clarence Seedorf geprägt war. Obwohl, wenn man ehrlich ist, haben sich die Niederländer etwas besser geschlagen. Insbesondere im Verein. Zico, Socrates, Falcão, Junior. Auch sie waren Teil einer goldenen Generation. Die 1982 und 1986 nicht einlösen konnte, was sie versprochen hatte. In Kroatien ist man genügsamer. Die goldene Generation wurde 1998 Dritter und hat wohl noch heute Heldenstatus. Jarni, Boban, Prosinecki, Suker und die anderen.

Auch in Deutschland gab es schon einmal eine goldene Generation, die sich achtbar schlug. Ihre Protagonisten hießen Christian Schwarzer, Daniel Stephan und Stefan Kretzschmar, Weltmeister wurde aber nur Schwarzer.

Wenn es aus dem diesjährigen WM-Kader ebenfalls nur einer schaffen würde, fände ich das bedauerlich. Schließlich gehe ich davon aus, dass diese goldene Generation den Weltfußball bestimmen und auf Jahre hinaus unschlagbar sein wird.

Das ist es, was ich eigentlich sagen wollte.