Wir erinnern uns: Das Team war recht zuversichtlich in die Saison gestartet, man hatte eine eingespielte, nur punktuell ergänzte Mannschaft, die ersten Pflichtspiele waren erfolgreich verlaufen. Ein erster Nackenschlag war das völlig unnötige 0:1 gegen einen durschschnittlichen Gegner, an dem der sonst so treffsichere Mittelstürmer einen nennenswerten Anteil hatte.
Anschließend war man gegen einen, wenn nicht den Meisterschaftsfavoriten angetreten, hatte gut begonnen, war sogar in Führung gegangen, um sich dann in eine blamable Klatsche zu ergeben. In der Führungsetage kamen Fragen auf.
“Habt ihr mir nicht kürzlich etwas von einer Berliner Schulmeisterschaft erzählt?”
Niemand sagte etwas, denn die Jungen wußten aus Erfahrung, daß der Rektor seinen Zorn stets über das Haupt des Antwortenden allein ausschüttete.
“Ihr könnt Euch wohl nicht mehr erinnern, was?” fragte Rektor Schulz. “Gut, dann werde ich eurem Gedächtnis nachhelfen. Ihr habt nämlich gesagt, ‘wir werden Berliner Meister’, so großspurig, daß ich es geglaubt habe. Was war der Lohn für meine Gutgläubigkeit? Man hat mich ausgelacht!”
Er steigerte sich immer mehr in Zorn.
“Jawohl ausgelacht! Gestern war ich bei Herrn Stadtschulrat Schweitzer. Wißt ihr, was der gesagt hat? Die – damit hat er unsere Schule gemeint – werden es nie schaffen. Und dann hat er mir von eurer Blamage erzählt. Neunmal habt ihr gegen die Charlottenburger verloren! Und das unter dem Namen einer Schule, der ich vorstehe und die bisher nur lobend erwähnt wurde! Schämt ihr euch denn gar nicht?”
Völlig erschöpft wischte sich der Rektor den Schweiß von der Stirn.
Heini raffte allen Mut zusammen und erhob sich unaufgefordert.
“Das stimmt nicht ganz, Herr Rektor, wir haben am vergangenen Mittwoch gegen die Charlottenburger wohl verloren, aber nicht neunmal, sondern nur einmal. Der Herr Stadtschulrat wird die Tore mit den Spielen verwechselt haben. Wir haben nämlich das Spiel mit neun Toren verloren. Das ist zwar ein furchtbar schlechtes Ergebnis, aber noch keine endgültige Blamage. Es kommen ja noch Spiele, bei denen wir das wieder gutmachen können. Wir haben damals wirklich nicht übertrieben. Wir sind – wie versprochen – Wilmersdorfer Meister geworden und haben…”
“Augenblick mal”, unterbrach ihn Rektor Schulz, verließ sein Pult und stellte sich vor Heini auf. “Und was war bei dem Spiel gegen die Zehlendorfer? Habt ihr da nicht ebenfalls den Namen eurer Schule in den Schmutz gezogen?”
“Das haben wir nicht, Herr Rektor”, sagte Heini mit Überzeugung, “wir haben zwar 1:0 verloren. Aber mit Anstand. Bei den Zehlendorfern haben wir halt Pech gehabt. Und die Charlottenburger sind ganz ohne Zweifel besser als wir. Aber darum können wir trotzdem noch Berliner Meister werden, wenn…”
Rektor Schulz fiel ihm ein zweites Mal ins Wort.
“Wenn, wenn, wenn! Du kennst ja das Sprichwort: ‘Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wären wir alle schon Millionär!’ Rede doch nicht so viel um den Brei herum. Ihr werdet nicht Meister. Das ist amtlich. Der Schulrat hat es gesagt. Der versteht doch wohl mehr als ihr!”
“Aber nicht vom Fußball!”*
Da hatte Heini zweifellos recht, auch wenn der Rektor anderer Meinung war. Letztlich fing sich das “Team” bekanntlich und wurde, wer wüsste es nicht, Berliner Meister, mit einem Präsidenten Rektor an seiner Seite, der zwar keine Ahnung von Fußball hatte, der aber seinen Schützlingen jeden Wunsch von den Augen ablas.
Ach, wenn es doch beim VfB Stuttgart auch so einfach wäre. Ein kurzes Gespräch von Ibisevic mit Konflikttherapeut Rechenlehrer Peters, dann ein gemeinschaftlich ausgerufenes
“Elf Freunde müßt ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen“,
und im Handumdrehen stimmen die Abläufe, stimmt die Gruppendynamik, stimmt nach gewissen Anpassungen in der Aufstellung die Balance der Mannschaft wieder, gewinnt die Offensive an Durchschlagskraft und die Hintermannschaft an Stabilität. Der Trainer darf mit zu den Spielen und sich um organisatorische Fragen kümmern.
Dabei, und da stimme ich Bruno Labbadia (der im Übrigen insofern Wort hielt, als die Mannschaft in der Tat für kurze Zeit unerwartet mutig auftrat – und auch dafür belohnt wurde) durchaus zu, schien die Hintermannschaft nach der vergangenen Rückrunde nun wirklich nicht das Problem zu sein, schon gar nicht die Innenverteidigung.
Tasci war gesetzt, Niedermeier und Maza sollen sich in der Vorbereitung auf Augenhöhe (und sie sind beide groß gewachsen) begegnet sein. Nun sah man Tasci, wie er für Thomas Müller Spalier stand, sah Ulreich, wie er den Ball wieder einmal nach vorne abprallen ließ, sah Boka nicht, sah Maza, wie er Okazaki unnötig in Bedrängnis brachte, sah dann Okazaki, wie er diese Bedrängnis augenscheinlich ignorierte, sah weiterhin indiskutable Stock- und sonstige Anfängerfehler bei vermeintlichen Soliditätsgaranten wie Kvist und Sakai, sah Gegentore, die aus einem billigen Ballverlust im Sturm oder gar einem eigenen Eckball entstanden, sah Bayern, die zu fünft gegen zwei auf Ulreich zuliefen, ach, ich will nicht mehr.
Und speziell die drei Tore unmittelbar nach der Pause werfen doch vor allem die eine Frage auf, die ich mir eigentlich nie mehr stellen wollte, nachdem Jürgen Klinsmann Polen verbal durch die Wand gehauen hatte:
Was hat Bruno Labbadia in der Kabine gesagt?
* Aus: Sammy Drechsel, 11 Freunde müßt ihr sein, Stuttgart 1955.