Er hieß Jochen, kam aus dem Nachbardorf, und dieser Text befasst sich nicht mit meinem ersten Mal. Überhaupt war er mir zu alt.
De facto war er sogar uralt, schätzungsweise fast so alt wie ich heute, und er spielte an diesem Tag Fußball. Nein, ich will der Wahrheit die Ehre geben: er motzte Fußball. Mit Schiri, Mit- und Gegenspielern. Zudem meckerte er. Stänkerte. Jammerte. Schimpfte. Klar, war ja auch ein Nachbarschaftsderby. Eines der letzten seiner Art – bald darauf fusionierten die beiden Vereine und schrieben eine schöne Kreis- Bezirks- Landesliga-Erfolgsgeschichte, aber das nur am Rande.
Meine Mutter, eine regelmäßige Fußballgängerin, schüttelte den Kopf und murmelte irgendwas von »Freundschaftsspiel« und »Alte Herren«, was die Umstehenden ihrerseits mit Kopfschütteln und dem Hinweis quittierten, dass man das ja wohl wisse, dass die die schlimmsten seien.
Ich wollte das damals nicht recht glauben, will es eigentlich auch heute noch nicht, trotz offensichtlicher und offensichtlich zunehmender eigener Schwächen in Sachen Schnelligkeit, Behändigkeit, Ausdauer, Schussgenauigkeit, … und was einem sonst noch so auffällt. Und trotz des daraus erwachsenden Frustpotenzials.
Natürlich bin ich ehrgeizig. Selbstverständlich will ich heute, längst älter als Jochen damals, jeden Mittwoch gewinnen. Immerhin: ich motze selten mit Mit- und Gegenspielern, eigentlich so gut wie nie, es sei denn vor mich hin murmelnd, und Schiri haben wir keinen. Aber ich ärgere mich über halbherziges Gekicke, über Fehlentscheidungen meiner Mitspieler, meine eigenen sowieso, und ich werde zur Furie, wenn taktische Fouls oder Handspiele begangen werden. Ok, in dem Fall motze ich doch.
Wie gesagt: gewinnen ist wichtig. Und manchmal frage ich mich, ob es zu wichtig ist. Frugen sie sich beim DFB ja auch, glaube ich, während und nach der Ära Sammer, aber zur Klärung dieser Frage brauchen die mich nicht. Beim Württembergischen Fußballverband, und nicht nur hier, wird die Frage übrigens auch gestellt, ebenso bei den Trainern von Bambini- und F-Jugend-Mannschaften, und die Antworten sind vielfältig. Schwierige Frage, der ich mich sogleich entziehe.
Meine Frau lächelt milde, wenn ich ihre Frage, wie’s beim Fußball gewesen sei, mit “gut” oder “schlecht” beantworte und sie damit weiß, ob wir gewonnen oder verloren haben. Mittlerweile versuche ich, mich etwas differenzierter auszudrücken, aber es gelingt selten, die Kernaussage zu verschleiern.
Sie selbst geht regelmäßig zum Volleyball, mit einer gemischten Gruppe, Jungs und Mädels, wie wir ewig Jungbleibenden gerne sagen, aber de facto sind’s Frauen und Männer, und kehrt beinahe ebenso regelmäßig kopfschüttelnd zurück. Weil zum Beispiel der eine oder der andere Mitspieler keine Bedenken hat, zwölf Angaben am Stück und mit zunehmendem Vergnügen auf jene eine an diesem Abend etwas indisponierte Spielerin der Gegenseite zu spielen. Was für eine Serie! Vermutlich ist es doch ein Geschlechterding.
Bei meinem Mittwochskick sind wir nur Männer. Alle wollen gewinnen, mit Nuancierungen in der Intensität. Schlage ich dabei über die Stränge? Bestimmt. Indem ich, zurückliegend, einen Zweikampf so führe, als spielte ich noch irgendwo im aktiven Ligabetrieb, regelkonform, aber abseits des Wettkampfsports (um nicht Trainer Baades Lieblingsvokabel vom Freizeitfußball zu gebrauchen) diskutabel, oder indem ich aus zehn Metern den Vollspann auspacke und damit unterbewusst ein Signal aussenden will, von seltenen Grätschen, auch sie: regelkonform, wenn man es könnte, gar nicht zu reden. Schlagen meine Mitspieler über die Stränge? Auch das, gewiss.
Gleichwohl gehe ich auch weiterhin von der Annahme aus, dass “ein Gentleman niemals absichtlich ein Foul” begehen würde (daher der obige Hinweis auf meine Verwandlung in eine Furie im Fall taktischer Vergehen), und dass wir alle Gentlemen sind. Selbstverständlich zeigen Gentlemen auch an, wenn sie versehentlich ein Foul begangen haben. Aber: es ist kompliziert.
Wie ist das mit den harten Zweikämpfen, die Howard Webb nicht abpfeifen würde, ein junger Zweitligaschiedsrichter aber schon und der in der Kreisliga erst recht? Was ist mit den Grätschen, mit denen man den Ball nach einem ärgerlichen Verlust zurückerobert, auch weil der Gegenspieler vorsichtshalber zurückzieht? Hat der Futsal da nicht die besseren Regeln?
Und überhaupt, die Regeln: es ist schwer genug bis unmöglich, unter Menschen, die sich hauptberuflich im Fußball tummeln – Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Powerzuseher – ein einheitliches Regelverständnis herzustellen. Wie soll es dann unter Leuten mit deutlich unterschiedlichem Fußballhintergrund funktionieren? Der eine hat dreißig Jahre lang im Verein gespielt, davon zehn in Ligen, wo der Fußball bereits nach Fußball aussieht, der andere machte nach der C-Jugend erst einmal zwanzig Jahre Pause, und wieder ein anderer greift in Regelfragen auf seinen langjährigen Erfahrungsschatz als Hand- oder Basketballer zurück.
Da kann man schon mal ins Grübeln kommen, ob man die Vorgabe, wonach ausschließlich der Foulende Fouls anzeigt, nicht doch aufweichen sollte. Gerade in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob eine positive Korrelation von Alter und dem Streben nach Siegen auf dem Fußballplatz empirisch belegt ist, von besonderer Relevanz. Wird unser Gentleman-Gen verschütt gehen, wenn Alter und Ehrgeiz weiter steigen, oder können wir das entkoppeln? Das Gen vom Ehrgeiz, den Ehrgeiz vom Alter, das Alter vom Gen, und so weiter?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nicht davon abrücken möchte. Ich will, dass wir die Hand heben und “Foul!” rufen, wenn wir eines begangen haben. Ich will, dass wir nicht die Hand heben und “Foul!” rufen, wenn wir glauben, gefoult worden zu sein. Aber, zugegeben, mit einem kurzen “Ey!” kann ich umgehen. Wir müssen ja auch im richtigen Leben gelegentlich daran erinnert werden, dass wir Gentlemen sind. Und wenn wir uns dann nicht angesprochen fühlen oder der Meinung sind, die Ansprache sei grundlos erfolgt, dann ist das auch gut so.
Vielleicht riefen wir die Geister auch selbst. Damals, als wir anfingen, Spielberichte zu schreiben. Woche für Woche, und es ist ein Riesenspaß, sie nachzulesen. Oder als wir begannen, die Aufstellungen auszuwerten. Ob die mit den Leibchen häufiger gewannen oder die ohne, wie groß der Überzahlvorteil ist, wer die meisten Einsätze im Kalenderjahr zu verzeichnen hat und mit welchen Mitspielern jeder einzelne von uns die meisten Siege erringt. Irgendwo zwischen der ran Datenbank und Moneyball, und unser aller Ehrgeiz mittendrin. Wie gesagt: es ist kompliziert.
Offenlegung: Ich habe keinen regelmäßigen Termin, der so unverrückbar ist wie der Mittwochskick. Gelegentlich hadere ich mit der Spielerzahl, mit der Pünktlichkeit, auch meiner, mit der Absagedisziplin, mit taktischen Fouls, sportlichen Fehlleistungen – nicht nur, aber vor allem meinen eigenen –, mit Aufstellungen, Stockfehlern, vergebenen Torchancen oder taktischen Lapsus, mit mangelndem Ernst, zu großem Ernst, fehlenden Leibchen, einem schlecht aufgepumpten Ball oder eben Defiziten bei der Gentlemanship.
Aber ich würde ihn nicht hergeben wollen. Auf keinen Fall.
Manchmal spielen wir auch gegen andere. Das letzte Aufeinandertreffen mit den Alten Herren von daheim, Sie wissen schon, aus dem Retortenclub mit dem Nachbardorf, war eine deutliche Angelegenheit für uns. Was beide Mannschaften nicht davon abhielt, in der einen oder anderen Situation ihren Unmut zu bekunden. Mit den Mitspielern, den Gegenspielern, dem Schiri. Der hieß Jochen, ist immer noch viel, viel älter als wir und sagte, dass es doch nur ein Freundschaftsspiel sei.