Als Kind des Bodensees hat man, speziell dann, wenn immobiliäre Eigentumsverhältnisse der Vereinfachung halber außen vor bleiben, per definitionem nah am Wasser gebaut. Ich bin da keine Ausnahme. Gleichzeitig vermute ich, dass die Wassernähe am Samstag im Hamburger Volkspark gar nicht sonderlich groß sein musste, um bei der Verlesung der HSV-Aufstellung (“Mit der [egal welche Nummer]: Hermann …” – “RIEGER!”) ihrer metaphorischen Bedeutung gerecht zu werden.
Kurz: es war bewegend, und es war tränenreich, auch für einen Nicht-HSV-Fan, dessen Bezug zu Rieger sich darauf beschränkte, dass er, Rieger, ihn, den Nicht-HSVer, also mich, spätestens seit den frühen 80ern irgendwie begleitete, seitdem irgendwann mal irgendwo eine Notiz über den beliebten Bayern in Hamburg zu lesen gewesen war.
Im Lauf der Jahre schien seine Bedeutung, auch aus der Ferne betrachtet, immer weiter zu wachsen, wurde er gar mit dem zweifelhaften Attribut “Kult-” versehen, und erst vor ein paar Wochen frug ich mich, zufallsgetrieben, welche Mitglieder des medizinischen oder auch des sonstigen Betreuungsteams eines Bundesligisten bundesweit derart große Bekanntheit, weithin auch Beliebtheit, erlangt hätten. Abgesehen vom Münchner Arzt, der Rieger in Sachen Bekanntheit überragt, der aber auch außerhalb seines Vereins für den DFB tätig war und ist, fiel mir keiner ein. Na ja, egal.
Die Stimmung war bemerkenswert. Andächtig und sichtlich betroffen legten Hamburger Fans vor dem Spiel Blumen vor Uwes Fuß ab (bestimmt auch andernorts; ich nahm es eben dort wahr), sie zündeten Kerzen an, drapierten Trikots und Fahnen, um Riegers zu gedenken, und nicht wenige Dortmunder gesellten sich zu ihnen, wie auch schon während der Woche immer wieder Fußballfans verschiedenster Couleur per Twitter und sonst wo ihre Anteilnahme und ihre Wertschätzung zum Ausdruck gebracht hatten. Auch das hat mich ein bisschen angefasst, und das Bild, der Begriff von der Fußballfamilie, der so gerne mal in unsäglichen Kontexten bemüht wird, ging mir mehr als einmal durch den Kopf.
Hut ab, Ihr HSV-Fans, das habt Ihr gut gemacht! Ich weiß es zu schätzen, dass ich dabei sein und auch was hochhalten durfte.
Dass ich dabei war, hat zunächst einmal private Gründe, die mich am Wochenende nach Hamburg verschlugen, und ist dann natürlich der lieben Frau @astiae zu verdanken, die mich bedenkenlos neben Herrn @maik216 stehen ließ, einem sehr angenehmen Nebensteher, übrigens, den ich gerne weiterempfehle, und ehrlich gesagt bin ich ganz guter Dinge, das Vertrauen gerechtfertigt zu haben:
Ich stand, wenn auch aus egoistischen, fußballinteressierten Gründen, verlässlich mit auf, wenn die HSV-Fans dazu aufgefordert wurden, setzte mich dann, wider meine Natur, wieder hin, um niemandem die Sicht zu nehmen, und klatschte, wenn ein Tor fiel. Dass dies nur zugunsten des HSV geschah, war meiner sportlichen Zufriedenheit ab-, meinem sonstigen Wohlbefinden möglicherweise zuträglich.
Und so kann sich die Bilanz des HSV in meinem Beisein in dieser Saison leider wahrlich sehen lassen: zwei Spiele, sechs Punkte. 7:0 Tore. Und zwei Freistoßtore von Çalhanoğlu. Und schon vom ersten hatte ich so sehr geschwärmt.
Dabei hatte es am Samstag anfangs gar nicht mal schlecht ausgesehen:
“NICHTS hat sich geändert hier!”
So zumindest lautete die deutliche Ansage eines Herrn schräg vor mir, die Stimme erregt, das Idiom norddeutsch – hanseatisch, wage ich zu sagen –, als ein Hamburger Spieler einem anderen Hamburger Spieler nicht die notwendige Hilfe zukommen ließ, der Ball den Besitzer wechselte und bereits nahezu zwanzich Minuten gespielt waren. Da war er also schon verpufft, der Neue-Besen-Effekt, und dieser Slomka ist ja auch nur ein Fink mit weniger eng sitzenden Hosen, ein van Marwijk mit Pulli statt Schal, ein Cardoso mit Vertrach, Sie wissen schon.
All das sagte er natürlich nicht, also all das letzte. Das erste schon, und die Ungeduld, die in seiner Stimme lag, die ich, wenn schon nicht als Verzweiflung, so doch als Ausdruck großer Sorge interpretiert hätte, oder vielleicht auch nur als Lust am Nörgeln, wer weiß das schon, sie schien nicht einmal völlig unbegründet: der HSV hatte den Gästen aus Dortmund zunächst das Spiel überlassen, was diese gern annahmen. Ohne allerdings so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollten. Offensichtlich hatten sie die rechte Hamburger Abwehrseite als Schwachstelle ausgemacht – ob das dem ursprünglich aufgestellten Dennis Diekmeier oder dem nachgerückten Heiko Westermann geschuldet war, sei dahingestellt –, hatten aber mit Großkreutz und Schmelzer keine linke Seite, die ernsthaft in der Lage gewesen wäre, Taten folgen zu lassen.
Überhaupt, Großkreutz: der soll gefälligst rechts hinten spielen, da brauchen “wir” ihn bei der WM schließlich auch. Denken Sie mal an die Nationalelf, Herr Klopp, Mann!
Ob Aubameyang rechts vorne in der Lage gewesen wäre, Jansen in Verlegenheit zu bringen, wollte der BVB gar nicht erst herausfinden, was, um der Wahrheit die Ehre zu geben, zumindest zum Teil auch am HSV-Mittelfeld gelegen haben mag, das die Antwort lieber auch nicht in Erfahrung bringen wollte und entsprechend beherzt zu Werke ging. Dass Nuri Sahin damit so gar nicht zurechtkam, hätte ich nicht erwartet. Kein Zufall, dass er das entscheidende 2:0 begünstigte, als er im Zweikampf den Kürzeren zog.
Vom titelgebenden Vordermann hörte man dann doch nicht mehr so viel. Hatte sich ja auch einiges geändert. Ob das nun doch noch der besagte Neue-Besen-Effekt war, wird sich zeigen; ich persönlich fühle mich indes leider bestätigt, dass die Entscheidung des HSV für Mirko Slomka (oder war’s andersrum?) dem VfB sehr weh tun könnte. Und damit meine ich nicht, dass Slomka vom Markt ist, auch wenn ich mich mit ihm schon verschiedentlich hätte anfreunden können, sondern vielmehr, dass er einen unmittelbaren Konkurrenten, so meine Überzeugung, aus der Abstiegszone führen wird.
Ob indes der Trainermarkt für den VfB von Belang ist, werden vermutlich die nächsten Tage zeigen. Die Spekulationen schießen schon einmal ins Kraut, neben den perspektivischen Lösungen Rangnick und Tuchel, die gedanklich etwa so fern liegen wie dereinst Daum in Köln, wurde auch schon Holger Stanislawski ins Spiel gebracht, der bei mir seit einigen Jahren unten durch ist, aber das will ja keiner wissen.
Ich selbst bin keineswegs so weit, mir die Ablösung von Thomas Schneider zu wünschen, was jedoch nicht nur mangels Einfluss nichts zu sagen hat, sondern auch, weil ich nur äußerst selten die Ablösung eines Trainers für die beste Lösung halte oder gar, meiner Hybris gehorchend, fordere. Wenn man von den letzten beiden hiesigen Übungsleitern und dem sich daraus ergebenden Trendverdacht absieht. Vom jüngsten Spiel habe ich zudem so gut wie nichts gesehen, genau genommen also von den jüngsten beiden, und so kann ich aus recht widersprüchlichen schriftlichen Medienberichten zum Auftreten der Mannschaft gegen die Hertha nicht ableiten, ob denn nun alles gut wird oder doch eher den Bach hinab geht.
Nun denn, ich lasse es auf mich zukommen. Ein bisschen Sorge bereitet mir allerdings jenes Bild im Kopf, das ich nicht mehr recht loswerde und das Fredi Bobic in gemütlicher Runde mit ein paar Kumpels um einen Kneipentisch herum sitzen sieht, ungefähr so, wie ich mit meinen Fußballfreunden mittwochs um einen Kneipentisch herum sitze, und in dem besagter Bobic mit besagten Kumpels, just wie besagter Kamke mit besagten Fußballfreunden, willkürlich ein paar Trainernamen in die Runde wirft. Irgendwann zieht dann ein besonders gut vorbereiteter Mitstreiter ein Mobiltelefon mit Transfermarkt-App aus der Tasche, um dem Ganzen das nötige Maß an Seriosität zu verleihen. Bis letztlich Erich Ribbeck aus dem Sack gezogen wird. Oder, was weiß ich, Trond Sollied, der hier schließlich mal ein ganz heißes Eisen war.
Team Schneider.
Ach, auf eines möchte ich doch noch hinweisen: wann immer ich den HSV in dieser Saison live sah, siegte die Heimmannschaft überzeugend. Am 22. März ist es wieder so weit.
Im Neckarstadion.