Rückblicksvorbereitungsstichworte (IV)

Bin ja dann doch in ein ziemliches Loch gefallen, als am Sonntag um 18 Uhr kein Spiel auf dem Programm stand. Pünktlich um 5 hatten wir uns beim Gastgeber eingefunden, um uns auf das Spiel vorzubereiten und nebenbei ein paar Köstlichkeiten auszuprobieren, aber mal im Ernst: Wie soll man die Spannung so lange aufrecht erhalten? Ja, ich weiß, man hätte es sich denken können, das mit dem Anstoß, nachdem ja auch schon die Griechen und die Polen und die Russen und die Tschechen … Aber irgendwie hatte mich die Aufarbeitung der Geschehnisse in Gruppe A anderweitig beschäftigt, da blieb kein Platz für Uhrzeitüberlegungen.

Doch zurück zum Wesentlichen: Rückblickvorbereitungsstichworte für den Nachwuchs.

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Um gleich mal mit einer popkulturellen Referenz anzufangen: am 17. Juni 2012 wurde mir die Bedeutung der für mich damals aus FSK-Gründen noch unbekannten Redensart “You have officially been #porned” erstmals vor Augen geführt. Anderen auch. Von Cristiano Ronaldo, übrigens, der seinem Kapitänskollegen und mitunter als Geistesbruder gewürdigte Zlatan wohl doch noch das eine oder andere voraus hatte, beispielsweise die Qualität der Mitspieler. (“Wenn die Schweden den Wilhelmsson nicht spielen lassen, sind sie selber schuld” – um mal meinen alten Herrn zu zitieren, der über die Jahre hinweg eine nur schwer zu begreifende Begeisterung für den Dribbler mit der schicken Frisur entwickelt hatte.)

Zlatan und seine Wasserträger (unter diesem Namen sollen sie hernach über die Dörfer getingelt sein) waren an den Engländern gescheitert, die etwas überraschend Dado Pršo als Mittelstürmer aufgeboten hatten. (Nein, ich hatte Dado Pršo auch nicht gekannt, aber mein Vater war nicht davon abzubringen.)

Spanien und Kroatien hatten die passenden Rahmenbedingungen für das letzte Spiel in die Wege geleitet, die Iren alles dafür getan, ihren Fans einen gloriosen Auftritt zu ermöglichen, und Italien schon einmal die Tränendrüsen aktiviert für den Fall, dass besagte Rahmenbedingungen bei Spanien-Kroatien ihren Zweck erfüllen würden, ohne dabei an die Tränen zu denken, die Giovanni Trapattoni bei einem von ihm verschuldeten italienischen Ausscheiden vergießen würde. Ich wusste damals nicht einmal, ob auch er, wie sein durch die Welten bummelnder deutscher Kollege Hans-Hubert Vogts, nie einen Hehl daraus machte, das er sich eigentlich nach wie vor viel eher als Teil des Trainerstabs seines Heimatlandes sah.

Die bitterste Erkenntnis an jenem Wochenende war die, dass mein Lob der Anstoßzeiten (Sie wissen schon: Sandmännchen, Paula und Paula, …) verfrüht erfolgt war. Mit Beginn des dritten Spieltags waren nämlich die 18-Uhr-Spiele passé, alles weitere sollte sich tief in der Nacht ab 20 Uhr 45 abspielen. Mit der Konsequenz, dass ich die Spiele nicht mehr anschauen durfte und mein Vater regelmäßig gegen den Schlaf ankämpfen musste. In einer Wachphase erklärte er mir, dass es noch früher durchaus üblich gewesen sei, Fußballspiele bereits um 19. 30 oder 20.15 Uhr anzupfeifen und so auch dem einen oder anderen Kind Gelegenheit zu geben, wenigstens eine Halbzeit zu sehen. Die Championsleagueisierung des Fußballs habe jedoch auch in diesen Bereich unwiderruflich eingegriffen. So unwiderruflich man das halt damals einschätzen konnte.

Wie auch immer: Weder sah ich die Entscheidung in der Todesgruppe A, in der die russischen Fans bekanntlich an ihrer eigenen Erwartungshaltung gescheitert waren (oder so ähnlich, Herr Arshavin argumentierte da etwas verkürzt, wenn ich mich recht entsinne), noch konnte ich das niederländische Ausscheiden miterleben – was, um der Wahrheit die Ehre zu geben, weniger mit der Anstoßzeit zu tun hatte als damit, dass Deutschland parallel spielte. Lange Zeit hatte es übrigens so ausgesehen, als würden wir das Deutschland-Spiel mit einer überschaubaren Gruppe mehr oder weniger kompetenter Erwachsener verfolgen. Als mein Vater in seiner Intoleranz erkannte, dass sich ein Event zu entwickeln drohte, schützte er Müdigkeit vor. Meine. (So zumindest meine Interpretation, zugeben wollte er es nicht.)

Also sahen wir den deutschen Sieg, der bekanntlich in allererster Linie Mario Gomez’ Ferse zu verdanken war, in trautem Familienkreis. Ein bisschen ärgerlich war es schon, dass meine deutlich jüngere Schwester es irgendwie hinbekam, ihr Länderspieldebüt zu feiern – da hätte ich mir von meinen Eltern doch etwas mehr Konsequenz gewünscht, nicht erst zur Pause. Aber man muss ja auch gönnen können.

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Zugegeben: Der junge Mann mit aufgestecktem schwarz-rot-goldenem Iro und ebensolcher zum Rock gewickelter Fahne irritierte mich ein wenig. Aber natürlich hatte ich nur das Wohl meines Sohnes im Sinn.

Tom Hanks, die Schwester und ich.

Es muss wohl an den Bildern aus Cannes und dem Hype um Christoph Waltz liegen, dass ich in diesen Tagen mehr als einmal an “meine” schönste spannendste interessanteste Oscarverleihung zurück gedacht habe.

Im Frühjahr 1995 verbrachte ich die Semesterferien bei meiner damaligen Freundin in Irland, die zu dieser Zeit bei ihrer großen Schwester wohnte – einer irischen großen Schwester mit ausgeprägtem Beschützerinneninstinkt, übrigens.

Ende März stand die Oscarverleihung an, und alle Diskussionen drehten sich um die Aufteilung der Trophäen zwischen den großen Favoriten Forrest Gump und Pulp Fiction. Die Schwester konzentrierte sich dabei in besonderem Maße auf den Preis für den besten Hauptdarsteller: unter den Nominierten war Tom Hanks, der bereits im Vorjahr für seine Rolle in Philadelphia ausgezeichnet worden war – und in seiner Dankesrede wohl nicht ganz ihren Geschmack getroffen hatte, wie mir sehr rasch klar wurde.

Offensichtlich hatte er zu vielen Menschen gedankt, zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt, seine Frau zu überschwänglich gepriesen, kurz: war wohl zu sehr Tom Hanks gewesen. Tatsächlich ist jene Rede noch heute insbesondere deshalb in Erinnerung, weil Hanks die Homosexualität seines ehemaligen Schauspiellehrers und eines Mitschülers öffentlich machte, nicht aber als besonders schlechte Dankesrede.

Wie auch immer: die Schwester bereitete sich und mich tagelang auf den GAU vor, dass Hanks möglicherweise noch einmal gewinnen und eine ähnlich pathetische Rede halten könne, ich würde es dann schon sehen. Es kam also, wie es kommen musste: Sein Name wurde genannt, er ging zur Bühne und begann zu reden. Nach gefühlten zwei Sekunden fiel ihm die Schwester ins Wort:

“Da, seht Ihr? Er tut es schon wieder! Tom Hanks, hör auf! Gleich dankt er seiner Frau, Ihr werdet sehen! Und dann kommt bestimmt auch wieder dieses ‘God bless America’. […] Schleimer!”

[Gedächtnisprotokoll, sinngemäß übersetzt]

Als sie sich wieder beruhigt hatte, wandte sie sich mir triumphierenden Blickes zu:

“Siehst Du, ich hab’s Dir gesagt!
War das nicht fürchterlich?”

Worauf ich wahrheitsgemäß antwortete:

“Sorry, ich hab nicht verstanden, was er sagte.”

Also frug sie, welchen Teil bzw. welche Wörter ich denn nicht verstanden hätte. An dieser Stelle wäre ich wohl noch unbeschadet aus der Nummer heraus gekommen. Ich hätte sie bitten können, mir seine Rede noch einmal sinngemäß zu übersetzen, um dann vermutlich grundsätzliche Zustimmung mit gewissen Einschränkungen zu signalisieren. Stattdessen gab ich dem Teufelchen nach, das auf meiner Schulter Platz genommen hatte:

“Nein, ich konnte einfach nicht hören, was er sagt.”

Stille. Nachdenken. Groschen fällt.
Dann Wutausbruch und nachhaltig gestörtes Verhältnis.