O tempora…

“Black Tie” hatte es in der Einladung geheißen. Und eine venezianische Maske war verlangt, aber die können wir hier vernachlässigen. In Cambridge sollte es stattfinden, was auch nicht weiter von Belang ist. Absender war eine über alle Maßen liebenswerte Familie, die einerseits wunderbar unkonventionell sein kann, die es sich aber andererseits nicht nehmen lässt, auch bei einem Dinner mit 6 Personen Tischkarten zu platzieren. Der Dresscode war also ernst zu nehmen.

Konkret: Smoking, mit allem, was so dazu gehört. Vorrätig hatte ich keinen, sodass die Wahl zwischen privater Leihe, kommerzieller Leihe und Kauf anstand, bei den beiden zuletzt genannten Optionen ergänzt um die Wo-Frage – in England würde die Auswahl größer sein, der Preis geringer; allerdings wäre man darauf angewiesen, innerhalb weniger Stunden zwischen Ankunft und Feierlichkeit Vollzug zu melden. Nach einigem Hin und Her einschließlich diverser Anproben, bedingt produktiver Kommunikation mit englischen Herrenausstattern und einer kleinen Twitter-Umfrage entschied ich mich letztlich doch für die Privatleihe. Rückblickend frage ich mich, woher meine ursprünglichen Zweifel gekommen waren – er saß hervorragend.

Was nicht bei allen Gästen der Fall war. In Teilen war dies zweifellos dem ungewöhnlichen Charakter der Feierlichkeit geschuldet: es handelte sich sowohl um einen soundsovielten Hochzeitstag (weit jenseits von Silber), als auch um eine Graduation, als auch um einen 21. Geburtstag, und nicht zuletzt den Gratulanten der letztgenannten Jubilarin sei die eine oder andere Abweichung vom Kodex zugestanden, beispielsweise in Form eines Hemdes mit “normaler” Knopfleiste und ebensolchen Manschetten, in Einzelfällen waren auch Krawatten zu sehen.

Geradezu schockierend war indes die Erkenntnis, dass eine Grundwahrheit in Sachen Gesellschaftskleidung, wie sie mir immer mal wieder begegnet ist, offensichtlich nicht mehr stimmt: zum Smoking trägt man Lackschuhe. Die deutschen Händler hatten mir ganz selbstverständlich Lackschuhe angeboten, einschlägige Internetseiten lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, und das vor Jahren zum Schleuderpreis unters Volk gebrachte und entsprechend verbreitete Werk “Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode” lässt zwar den Verzicht auf Pumps mit Seidenschleife zu; vom Lackschuh solle man indes nicht abrücken (stimmt nicht ganz: “schwarze Gucci-Loafer” würden gesellschaftlich akzeptiert – dummerweise ist es da mit meiner eigenen Akzeptanz und der meiner Frau nicht so weit her).

Erste Einschränkungen brachte im Vorfeld der Austausch mit britischen Herrenausstattern, die vorsichtig andeuteten, dass man darauf verzichten könne. Allerdings hatte es sich dabei um Anbieter gehandelt, die sehr stark den studentischen Markt bedienen, dessen Besonderheiten oben bereits angeklungen sind. Letztlich kam ich zu dem Schluss, ohne Lackschuhe anzureisen, mich vor Ort kundig zu machen und gegebenenfalls noch rasch das richtige Schuhwerk zu erwerben (Die Sorge vor einem Ball in neuen Schuhen nahm mir eine junge Verkäuferin dann auch recht überzeugend: “You just need to drink enough, then you won’t feel the pain.”).

Tatsächlich wurde mir in verschiedenen Fachgeschäften bestätigt, dass es mittlerweile völlig ok sei, nahezu irgendeinen schwarzen Herrenschuh zu tragen, was mich zwar nicht restlos überzeugte, mir aber jede weitere Argumentation gegen meine von Beginn an pragmatisch aufgetretene Frau unmöglich machte. Dass sie wie immer recht gehabt hatte, stellte sich am Abend heraus, als ich trotz konsequenter Schuhsichtung, auch und gerade bei gesetzten Herren, maximal 5-8 lackbeschuhte Herrenfußpaare (von ca. 100, Geschlechterparität vorausgesetzt) zählte. O tempora, o mores!

Meine Enttäuschung über die Abkehr von britischen Gepflogenheiten fand lediglich eine oberflächliche Linderung durch die Einsicht, dass zum einen die Kleiderauswahl junger Engländerinnen wie eh und je vollkommen figurunabhängig erfolgt und zum anderen das Getränk noch immer nicht erfunden ist, das englische Studentenmägen bis nach 23 Uhr bei sich behalten können.

Ach ja: das Fest war großartig, die Reden brillant, der Ort phänomenal. Ehrlich.