Revolverheld

“Bin ich eigentlich der Einzige, der …?”

So lesen wir es Tag für Tag auf Twitter, hören es vielleicht auch abseits der Tastatur, und in der Regel folgt dann eine zumeist nur scheinbar vom Mainstream abweichende These, also etwas in der Art von “Bin ich der Einzige, der Helene Fischer nicht so geil findet?”, oder auch “Bin ich der Einzige, dem das Helene-Fischer-Gehate auf den Sack geht?”.

Die Beispiele sind frei erfunden, wiewohl vermutlich nicht ganz realitätsfremd, und ihnen ist, von gemeinsamen Formulierungen und Strukturen abgesehen, eines gemeinsam: die Antwort. Ich habe das vor einigen Monaten schon einmal drüben bei Twitter auszudrücken versucht:

Nicht nur vor diesem Hintergrund bin ich mir ziemlich sicher, nicht der Einzige zu sein, auch wenn ich mir die Frage schon einmal kurz stellte, der sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit wünscht, das eigene Blog möge doch genau so sein wie das von Herrn X oder Frau Y. Nicht unter gestalterischen Aspekten (obschon es da natürlich gewisse Wünsche gäbe) oder in Sachen Reichweite (obschon man sich da gewisse Wünsche vorstellen könnte), nicht einmal im engeren Sinne inhaltlich. Es geht zumeist vielmehr um die grundsätzliche Art der Darstellung, korrekter: die Art der Texte.

Der eine oder die andere Mitlesende erinnert sich vielleicht an eine ältere Aufforderung, die ich hier im Blog einmal formuliert habe, und an die geschätzte Mitbloggende, ich denke insbesondere an Trainer Baade, gelegentlich erinnern: “Erzählt Geschichten!” Und so mag es nicht überraschen, dass Blogs, die ich gerne mein Eigen nennen würde, beziehungsweise von denen ich mir wünschte, dass die dort veröffentlichten Texte von mir sein könnten, meist solche sind, in denen Geschichten erzählt werden.

Langer Rede kurzer Sinn: ich beneide Herrn Kofler um sein Blog. Verzeihung: ich bewundere die Texte in seinem Blog. “Herr Kofler erzählt vom Krieg“, heißt es, und Herr Kofler, das dürfte auf der Hand liegen, erzählt dort Geschichten. Aus seinem Journalistenleben, aber nicht nur, amüsante Erlebnisse, aber nicht nur, sich selbst nicht zu ernst und gelegentlich auf den Arm nehmend.

Irgendwann wird sich mein Neid bestimmt wieder ein neues Ziel suchen, aktuell indes gilt er ihm. Nicht allein, aber in erster Linie.

Manchmal, wenn ich mich in Herrn Kofler gar nicht so martialischen Kriegsgeschichten verliere, denke ich “Hey, das hätte ich sein können”, nicht sehr oft, aber immerhin. Noch etwas seltener denke ich gar: “Das hätte von mir sein können”, nicht so, sondern anders, aber immerhin. In Einzelfällen gehe ich gar so weit, zu mir selbst zu sprechen: “Dazu könntest Du doch auch was schreiben!” Womit die Geschichte dann auch endet, unverrichteter Dinge. Stets, bisher.

Kürzlich bin ich dort indes über ein Thema gestolpert, zu dem wahrlich die meisten von uns etwas sagen können. Es geht um unser erstes Auto. Bei Herrn Kofler handelte es sich um einen Suzuki LJ 80, eine Art modernen Klassiker, glaube ich.

Unabhängig vom jeweiligen Modell haben wir vermutlich alle noch recht lebendige Erinnerungen an das Symbol unserer großen Freiheit, an die erste Urlaubsfahrt, an abgewürgte Motoren, an legendäre Spritztouren in kapazitativen und juristischen Graubereichen, an kleinere und größere Unfälle, lächerlich niedrige Benzinpreise, die natürlich viel zu hoch waren, möglicherweise an zwischenmenschliche Erfahrungen in etwas beengter Umgebung und ganz bestimmt auch an den Soundtrack, an jene selbst aufgenommenen Kassetten, die all das begleiteten.

Schloss ich von mir auf andere? Vermutlich. Schön war’s halt, waren sie, jene jungen Jahre, und obschon ich zum einen keine wirkliche Geschichte zu erzählen habe, mir zum anderen des Umstands bewusst bin, dass ich die Fallhöhe mit der langen Vorrede selbst bestimmt habe, will ich doch ein paar Zeilen zu meinem ersten Auto schreiben. Vielleicht möchte sich ja noch die eine oder der andere beteiligen und uns einen Schwank aus der Jugend (bzw. der gerade erreichten Volljährigkeit) erzählen?

Wir schrieben das Jahr 1990, die historische Einordnung möge die geneigte Leserin selbst vornehmen, als man mir den Führerschein zusandte, pünktlich zum 18. Geburtstag, wie das auf dem Land so üblich war. Was nicht nur an einer geringen ÖPNV- und folglich hohen Mopeddichte unter Heranwachsenden gelegen haben mag, die einen auf den motorisierten Straßenverkehr recht gut vorbereitete, sondern auch daran, dass sich in ländlichen Gegenden in aller Regel genügend abgelegene Sträßchen finden, wo man sich auch schon in jüngeren Jahren an Lenkrad und vor allem Pedalen versuchen kann. Allein: bei mir kam das irgendwie nicht zustande.

Mein Vater hätte viel zu viel Angst um seinen Wagen gehabt, gewiss, vor allem aber übte diese Fahrerei, selbst die verbotene, keine allzu große Anziehungskraft auf mich aus. Die Fahrschule würde noch früh genug kommen und mich alles Notwendige lehren.

Und sie kam. Tatsächlich ergab es sich, dass ich einen Tag vor meiner ersten Fahrstunde eine ganz grobe praktische Einweisung durch meinen Cousin erhielt, initiiert von der großen Familienrunde in Omas Wohnzimmer, inklusive Tadel für den ängstlichen Vater, sodass ich dem Fahrlehrer zu Beginn der ersten Stunde guten Gewissens sagen konnte, schon mal gefahren zu sein.

Er erkannte rasch, dass meine Vorkenntnisse nicht der Rede wert waren, und dass die ganze Geschichte wohl ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen würde. Er kannte sich aus. Umso erstaunlicher, dass ich es dann doch schaffte, nicht nur zwei Tage vor meinem Geburtstag zur Prüfung anzutreten, sondern diese auch – zweifachem Abwürgen und einmaligem Vorfahrtsverzicht zum Trotz – erfolgreich zu absolvieren.

Die Fahrberechtigung war also da, Fahrgelegenheiten ergaben sich zunächst eher selten. Meinem Vater fiel es weiterhin schwer, mich mit seinem Wagen fahren zu lassen. Er hegte und pflegte ihn, war immer ein begeisterter, sportlicher Fahrer gewesen und hatte seine Autos stets sehr akribisch mit Rallyestreifen (sagt man das heute noch?) und anderem Schnickschnack verziert, so auch dieses, und wollte es ungern unnötigen Gefahren aussetzen, wie ich zweifellos eine darstellte.

So ergab sich im Lauf der nächsten Wochen und Monate ein recht zähes Ringen um den einen oder anderen Kilometer an Fahrpraxis, das ich nur selten zu meinen Gunsten entschied, immerhin aber dann, als es zählte: um mit einem hübschen jungen Mädchen ins Kino zu gehen, zum Beispiel, das am Ende des Abends meine Freundin war. Das konnte ich zu jenem Zeitpunkt zwar noch nicht zweifelsfrei sagen, retrospektiv jedoch sehr wohl. Drei Jahre lang glaubte ich, sie irgendwann zu heiraten. Tja.

Die Sache mit Papas Auto war indes eine einmalige. Oder anders: zum nächsten Date kam ich schon im eigenen Wagen. So eigen er halt ist, wenn er einem von Mama und Papa hingestellt wird, aber das focht mich nicht weiter an. Es war mein Auto, und es war ein großartiges. Eigentlich war seit Jahren klar gewesen, dass es kein anderes sein konnte. Mein Opa hatte einen gefahren, meine Mutter zwei oder drei, ich erinnere mich nicht ganz genau, bis auf einen grünen waren sie alle rot gewesen, und rot war auch meiner. Mit Rallyestreifen, klar, Papa hatte sich das nicht nehmen lassen, aber immerhin ohne Spoiler. Hätte sich vielleicht auch nicht so gut gemacht bei einem R4.*

“Quatrelle”, bzw. 4L, würde ich ihn erst einige Jahre nennen, bzw. sein Pendant, meinen zweiten R4, der mich in Marseille einige Zeit begleitete, einige Mitlesende werden davon gehört haben. Die beiden Autos verschmelzen in der Erinnerung gerne mal zu einem, von dem schmucklosen Gefährt, das mich zwischenzeitlich durch die Gegend trug, nachdem die erste Quatrelle ein gewaltsames Ende erlitten hatte, weiß ich kaum mehr das Kennzeichen.

Wunschkennzeichen hatte man damals ja noch nicht so. Ok, man hatte, vielleicht, wenn man jemanden bei der Zulassungsstelle kannte, aber selbst dann war es nach meiner Wahrnehmung schlichtweg noch nicht so en vogue, sich auf dem Kennzeichen selbst zu verwirklichen. Umso gelungener, dass meines die Initialen besagter junger Frau aus Papas Auto trug.

Dass ich dennoch nicht mit ihr, sondern mit einem guten Freund die erste große Tour mit dem Wagen unternahm, nun ja, war halt so. Südfrankreich war das Ziel. Korrekter: der Weg dorthin. Dass wir im Rausch der Geschwindigkeit beinahe bereits an der Autobahnauffahrt gescheitert wären und die Stimmung zumindest bis zur Schweizer Grenze erst einmal ein wenig reserviert war, soll hier nicht ganz verschwiegen werden. Hat sich ja offenbar auch ziemlich nachhaltig ins Gedächtnis eingebrannt.

Mein Mitfahrer brauchte einen Moment, um sich an die Revolverschaltung zu gewöhnen, die jüngere Mitlesende vermutlich nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen, ansonsten verlief die Fahrt so, wie man sie sich in seinen verklärenden Erinnerungen eben so ausmalt: um die kostenpflichtigen Autobahnen zu meiden, fuhren wir auf kleinen Sträßchen, was den angenehmen Nebeneffekt hatte, dass der Lärmpegel trotz offenen Faltdachs in aller Regel zumindest so überschaubar blieb, dass man die laute Musik, die wir jungen Leute halt so hörten, noch erahnen konnte.

Die Heizung lief auf vollen Touren, gerade wenn es in höhere Gefilde ging, um die Motorkühlung zu unterstützen, und als wir auf der Höhe von Valence, also schon recht weit unten, einen ähnlich alten 2CV aus unserer Gegend überholten, fanden wir das, einer gewissen Solidarität unter Revolverschaltern folgend, hinreichend lustig, um uns, ausnahmsweise auf der Autobahn, über einige Kilometer hinweg immer wieder gegenseitig zu überholen. Nein, es saßen keine zwei Mädels drin.

Der Urlaub fand ein jähes Ende, als uns die Nachricht vom Tod einer Mitschülerin errichte, die Heimfahrt war zäh, geprägt von Müdigkeit, Betroffenheit und schlechter Laune, ein paar Stunden vor der Trauerfeier kamen wir zuhause an.

Das Schülerleben ging schnöde weiter, ein paar Monate später absolvierten wir unsere schriftlichen Abiturprüfungen, dem R4 wurden von Vaters Sohn zwar keine weiteren Rallyestreifen, aber doch ein recht auffälliger, in blassrosa gehaltener “Abi 91”-Schriftzug auf der Motorhaube verpasst, was im Dorf für Gesprächsstoff sorgte und auch von den Mitspielern stets kritisch beäugt wurde, wenn es zu Auswärtsspielen ging. Meist fuhren sie selbst, gestandene ältere Herren von Mitte zwanzig oder gar dreißig Jahren, mit ausgewachsenen Ford Escorts, Golfs, Mercedessen oder auch Ur-SUVs im Kofler’schen Sinne, aber gelegentlich war der eine oder andere dann doch froh, wenn er darauf setzen konnte, nach dem Spiel und anschließendem Getränkekonsum nicht selbst fahren zu müssen, und nahm das bedrohliche Ächzen eines mit vier Personen besetzten R4 in Kauf.

Etwas mulmig wurde meinem Beifahrer in einer solchen Situation, als wir unversehens in einen außergewöhnlich starken Wolkenbruch gerieten, der selbst moderne Scheibenwischer in den Grenzbereich ihrer Leistungsfähigkeit gebracht hätte, die Quatrelle aber derart überforderte, dass es keine Alternative zum sofortigen Anhalten gab. Der Standort auf einer recht langen Brücke war nicht ideal (“alternativlos” sagte man damals noch nicht), zwei oder drei Autos überholten uns noch, einer davon erzürnt hupend, danach kam der Verkehr kurzzeitig zum Erliegen, was – so unsere Überzeugung – aber nicht uns, sondern dem Wetter geschuldet war. Bisschen blöd dabei, dass der Unterboden nur so mitteldicht war und wir sehr feuchte Füße bekamen, mais c’est la vie.

Nach etwa zwei Jahren segnete er viel zu früh das Zeitliche, als ich kurz abgelenkt war – Pfandflaschen auf dem Beifahrerseitz sind nie eine gute Idee; bei einem Wagen ohne Mittelkonsole gilt das in besonderem Maße – und am Fußballplatz eine Kurve verpasste. Die dort stehende Walze ließ sich, ich hatte es schon einmal kurz erwähnt, gerade so vermeiden, der Straßenpfosten und der kleine Graben nicht. Der Schaden war zu groß, die Abi-91-Motorhaube entstellt, das Auto Geschichte. Mir war nichts passiert. War halt ein sicheres Auto, so ein R4. Manchmal wachträume ich bis heute davon, noch einmal einen zu besitzen.

Vor vielen, vielen Zeichen hatte ich mal geschrieben, dass ich Herrn Kofler um sein Blog beneide. Ich mag seinen Stil, den Tonfall, die Geschichten und manches mehr. Vor allem aber bewundere ich seine Fähigkeit, auf den Punkt zu kommen. Er hat das ja auch gelernt.

* Wer so gar keine Ahnung hat, was einen R4 ausmacht, der möge sich vielleicht einmal das Innenleben dieses Wagens ansehen, der – abgesehen von Farbe und Rechtssteuerung – meinem damaligen Modell recht ähnlich sein dürfte (ganz rechts der Choke, der mittlerweile ein bisschen aus der Mode gekommen ist). Außen war er diesem hier recht ähnlich, also dem im Vordergrund, mit Faltdach, leider ohne Rallyestreifen. Mein zweiter sah dann eher so aus. Eine Eloge veröffentlichte die Frankfurter Rundschau anlässlich des 50. Geburtstags des R4 im Jahr 2011.

 

 

Dugarry!

Dugarry! Dugarry! Dugarry!

Wir schrieben den 20. November 1993, im Stade Vélodrome zu Marseille war die AJ Auxerre zu Gast, und die (korrekter: der) Virage Sud skandierte ausdauernd den Namen eines jungen Stürmers aus Bordeaux? Irgendetwas stimmte da nicht, und wir würden herausfinden, was es war.

Ich blickte zwei Monate zurück, auf den 18. September, meinen ersten Besuch im Vélodrome, der gleichzeitig auch die Gelegenheit war, bei der ich besagten Dugarry erstmals hatte spielen sehen:

Bordeaux reiste als Tabellenführer an. OM hatte wenige Monate zuvor die Champions League gewonnen, in gedoptem Zustand, wie es heißt. Gar nur wenige Tage zuvor hatte man durch ein gekauftes Spiel gegen Valenciennes die Meisterschaft gewonnen, wie man weiß. Auf sanften Druck der Uefa wurde der französische Meistertitel aberkannt, in der Champions League durfte man nicht antreten, und der gemeine Marseillais sah sich in seiner herzlichen Abneigung gegen den französischen Verband bestätigt, manche würden wohl sagen (ich gehöre dazu): gegen so ziemlich alles, was aus Paris kommt. Marseille, c’est pas la France, Sie wissen schon.

Angesichts dieser Gemengelage brachte das Spiel gegen den Spitzenreiter – der ebenfalls nicht im Verdacht stand, zu den beliebtesten Gästen zu zählen, was dem einen oder anderen verbreiteten Fangesang noch heute zu entnehmen ist – eine gewisse Brisanz mit sich. Mit meiner 4L hatte ich mich kurzfristig auf den Weg gemacht, es war ja nicht weit, aber eben zu spät, um noch auf den Bus zu warten, mit drei Engländern im Auto, die die ganze Zeit von Chris Waddle redeten, von seinen drei großartigen Jahren in Marseille. Dass ich seiner in erster Linie als Elfmeterschütze gedachte, behielt ich für mich. Entgegen aller Erwartungen fand sich ein mehr oder weniger regulärer Parkplatz auf dem Boulevard Michelet, der Schwarzmarkt florierte, ohne dass die Preise bereits ins Unermessliche gestiegen wären: 100 Franc, Stehplatz, Virage Sud, alles gut. Eher zufällig aß ich noch rasch mein allererstes Sandwich Merguez Frites, das fortan zum Stadionbesuch gehörte wie heute eine rote Wurst, und betrat dann erstmals das Vélodrome. Quelle ambiance! So kritisch ich heute pyrotechnischen Aktivitäten in Fußballstadien gegenüberstehe – damals war der bunte Rauch elementarer Bestandteil einer Atmosphäre, die mich vom ersten Moment an gefangen nahm.

Mein Platz war zunächst beschissen, unmittelbar neben einem stark frequentierten Durchgang, sodass ich immer wieder einen Schritt zur Seite gehen und in der Folge Verrenkungen machen musste, um aufs Spielfeld zu sehen. Von den Gesängen verstand ich erst einmal kein Wort, um mich herum sprachen Menschen in Zungen – erst Jahre später, als ich erstmals Snatch sah, sollte ich wieder ähnlich verständnislos zuhören -, und zu allem Überfluss ging der Gast in der ersten Minute in Führung. Unschön, aber: egal. Ich fühlte mich großartig. Auf dem Feld standen Leute wie Boli, Deschamps, der phänomenale Boksic und der wunderbare Piksi Stiojkovic, natürlich Völler und Barthez, Boghossian, der am Beginn seiner ersten starken Saison stand, und nicht zuletzt Éric di Meco, dessen Kultstatus sich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht erschloss. Marcel Desailly sollte an diesem Tag die besondere Ehre zuteil werden, das erste in einer Reihe mehr oder weniger prominenter Opfer von Zinédine Zidane zu werden, der sein professionelles Platzverweisdebüt stilecht mit einem Faustschlag beging. Der Heldenstatus in seiner Heimatstadt Marseille würde noch ein Weilchen auf sich warten lassen.

Im Lauf des Spiels gewöhnte ich mich an die Gesänge, erinnerte lautstark an den 26. Mai, auch wenn ich jenes Spiel nur in Teilen gesehen hatte, stimmte mit zunehmender Inbrunst ins “Aux Armes!” ein und merkte vor allem eines: “Quand le virage se met à chanter, c’est tout le stade qui va s’enflammer!” Möglicherweise lag es indes nicht nur an der Kurve, sondern auch ein wenig am Spielverlauf: di Meco glich gleich nach der Pause aus, Dutuel erhöhte und Prunier, William Prunier, der in der Vorsaison noch im Uefa-Cup-Halbfinale gegen Dortmund für AJ Auxerre den Haudrauf gegeben hatte, setzte kurz vor dem Ende den Schlusspunkt. 3:1, der Tabellenführer war zwar nicht gestürzt, aber man war jetzt punktgleich mit den Bordelais und hatte gezeigt, dass es l’OM, den Ungerechtigkeiten der Welt zum Trotz, an die wir fortan wie selbstverständlich auch glaubten, allen erst recht zeigen würde. Christophe Dugarry wurde bei den Girondins eingewechselt – ein Name (und ein junger Mann), den ich bald darauf und auf Jahre Jahrzehnte hinaus mit der WM 1994 assoziieren würde.

In der Liga sollte sich indes schon beim nächsten Heimspiel gegen Metz mehr als nur andeuten, dass bei OM einiges im Argen lag – nicht nur in sportlicher Hinsicht, sondern auch und ganz besonders neben dem Platz: kurz vor Schluss musste die Partie beim Stand von 0:3 wegen eines Platzsturms abgebrochen werden. Es sollte nicht mein einziger Spielabbruch im Vélodrome bleiben. Anderthalb Jahre später, man war zwischenzeitlich als Spätfolge der Valenciennes-Sache in die zweite Liga versetzt worden, lag man gegen Nancy mit 0:2 zurück, als erneut Sitzschalen und was weiß ich alles flogen – und mir nicht so ganz wohl war in meiner Haut. Barthez war früh vom Platz geflogen, Casoni später auch, und natürlich war die Welt wieder einmal ungerecht. Genau wie am Ende jener Zweitligasaion, die man zwar als Meister beendete; aufsteigen durfte man dennoch nicht und musste sich noch ein weiteres Jahr gedulden.

Aber ich war ja eigentlich in der Saison 93/94. Großartige Spiele wie jenes gegen Bordeaux wechselten sich lange Zeit mit furchtbaren Auftritten wie dem gegen Metz ab, ehe man sich in der Rückrunde auf Platz zwei festsetzte. Nicht zuletzt dank Sonny Anderson, der eine herausragende Saison spielte (und danach nach Monaco wechselte), gewann Rudi Völler das Nationalstürmerduell gegen Klinsmanns Monaco, und ich verpasste kein Heimspiel.

Was ich indes ein wenig stiefmütterlich verfolgte, war der Fußball in Deutschland, und war nicht zuletzt die Endphase der WM-Qualifikation. Die Niederlage der Franzosen gegen Israel hatte ich nur so halb verfolgt, und auch beim entscheidenden Spiel gegen Bulgarien am 17. November saß ich nicht vor dem Fernseher, sondern streifte ein wenig durch die Stadt. Könnte mit einer Frau zu tun gehabt haben. Im Vorbeigehen hörten wir Jubel aus einer Kneipe, die Uhrzeit verriet, dass das Spiel gerade so vorbei sein dürfte, beim Blick durch die Eingangstür waren jubelnde Menschen in OM-Trikots zu sehen. Da hätte man stutzig werden können. Als einer von ihnen herauskam, frug ich nach dem Ergebnis, und ob Frankreich es nun doch noch geschafft habe, was er, offensichtlich hocherfreut, verneinte. Ich gebe zu, ich war, obwohl ich schon einige Zeit in Marseille verbracht und die, vorsichtig ausgedrückt, verbandskritische Stimmung im Stadion im Grunde alle zwei Wochen erlebt hatte, ein wenig überrascht. Naiv, offensichtlich.

Drei Tage später spielte OM im Vélodrome gegen Auxerre, wir waren recht früh da, um vor dem Spiel ein wenig von der Stimmung mitzubekommen. Als sich das Stadion langsam füllte, wurden die ersten Gesänge angestimmt.

“Dugarry! Dugarry! Dugarry!”

hieß es da, wir sahen uns zunächst verwirrt an, da der Betreffende nach wie vor für Bordeaux aktiv war, auch noch nicht für die Nationalelf, und für OM sollte er erst viele Jahre später auflaufen. Also hörten wir noch etwas genauer hin:

“Bulgarie!”

Schön, dass sich Frankreich für die EM 2012 qualifiziert hat.

Dinge, die man gerne mal unterschätzt: Dreckige Fußballklamotten

Das Leben war schön in den frühen 90ern, irgendwo in Südfrankreich, die Liebe auch, das Wetter sowieso. Und der Fußball. Ich verbrachte viel Zeit auf provenzalischen Lavendelfeldern Ascheplätzen, gelegentlich war auch ein Kunstrasen, in seltenen Fällen echter Rasen dabei. Häufig wusste man wenige Stunden vor dem Kick noch nicht, ob der Platz tatsächlich zur Verfügung stehen würde, und selbst bei überregionalen Spielen, für die man auch mal fünf Stunden im Bus saß, war damit zu rechnen, dass vor Ort eine gewisse Wartezeit in Kauf zu nehmen sei. Was insofern nicht schlimm war, als man ohnehin immer verspätet ankam.

So auch bei einem Mannschaftsessen, in dessen Vorfeld alle aufgefordert wurden, “ausnahmsweise einmal pünktlich” zu kommen. Leider schaffte ich es aus organisatorischen Gründen nicht, kam 45 Minuten zu spät und traf auf einen Gastronomen, der mich mit einem freundlichen “So langsam wird’s Zeit, dass mal einer von Euch kommt” begrüßte. Aber das nur am Rande. Ebenfalls am Rande erwähnt seien die gelegentlichen Zusammenstöße mit der Obrigkeit, deren Schikanen, wohlwollend ausgedrückt, möglicherweise nicht ausschließlich mit dem deutschen Autokennzeichen und in der Regel englischen Mitfahrern zusammen hing.

Natürlich endete auch diese Zeit, als sie am Schönsten war, und ich trat die Rückreise nach Deutschland an. Meine 4L war bis unters Dach bepackt mit meinem Hausrat und dem einer jungen Frau, die zu beeindrucken damals mein wichtigstes Anliegen war. Der Zeitplan für den ersten Teil der Fahrt war insofern recht verbindlich, als auf halber Strecke ein Fußballturnier in der Haute-Savoie anstand, an dem mein Heimatverein aufgrund einer Städtepartnerschaft teilnahm. Also kickten wir, eher durchwachsen übrigens, und feierten ein rauschendes Fest, dessen einziger Makel im zunehmend unangenehmeren Dauerregen bestand. Die völlig durchnässten und vom Matsch mehr oder weniger schwarz eingefärbten Klamotten wurden in eine Tasche gepackt und in den Kofferraum geschmissen – spätestens in zwei Tagen würde man sie ja bei Muttern waschen können.

Auf der weiteren Fahrt stand dann noch die eine oder andere Stadtbesichtigung an (Kultur und so, Eindruck schinden…), zuletzt im unmittelbaren Grenzgebiet in Pontarlier. Der Wagen stand auf einem öffentlichen Parkplatz, und als wir dorthin zurückkehrten, widmeten sich ihm zwei Herren, die jeweils eine Uniformhose und einen Strickstoff-Pullover mit angeklettetem Namensschild trugen – die Vermutung lag nahe, dass sie für den Zoll arbeiteten. So traten sie dann auch auf und frugen nach meinem Ausweis. Meinen Erfahrungen der letzten Monate Rechnung tragend, entgegnete ich freundlich, dass ich ihn gerne vorzeigen würde, sobald sie sich selbst ausgewiesen hätten.

Der uniformierte Herr zeigte sich nicht sehr erfreut und deutete auf seinen Pullover inklusive des Namensschilds, was ich in einem Anfall von Wahnsinn mit der Bemerkung konterte, dass den Pulli ja auch seine Oma gestrickt haben könne. Was er nicht witzig fand. Meine Begleitung übrigens auch nicht – soviel zum Thema “beeindrucken”. Der Herr deutete nunmehr auf seine Dienstwaffe und wollte wissen, ob ich der Meinung sei, besagte Großmutter habe auch diese gestrickt. Ich verneinte.

Die Positionen waren also ausgetauscht und wir zeigten uns gegenseitig unsere Ausweise. Irgendwie herrschte dennoch eine etwas gereizte Stimmung, und die Herren baten mich nur so halb freundlich, den Kofferraum zu öffnen. Glücklicherweise hatte ich nichts zu verbergen und tat guten Gewissens wie mir geheißen.

Wie gesagt: zu verbergen hatte ich nichts, zu befürchten hätte ich angesichts der Vorgeschichte möglicherweise durchaus etwas gehabt. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir: ganz zuvorderst lag die mittlerweile fast zwei Tage alte und nicht unbedingt als solche erkennbare Fußballtasche.

Sie wurde kurz geöffnet und rasch wieder geschlossen.
Eine weitere Durchsuchung fand nicht statt.