"Mein Name ist Grafite."

Nein, ich habe keine Identitätskrise. Auch meinem gestrigen Nebensitzer würde ich eine solche nicht unterstellen. Dennoch hat er den Satz “Mein Name ist Grafite” während des Bundesliga-Eröffnungsspiels gefühlte geschätzte hundertmal gesagt (wann immer Steffen Simon “Grafiiitsch” sagte, um genau zu sein). Damit zitierte er, wenn auch nicht ganz korrekt, besagten Grafite aus dem Sportstudio vom 22. März (ab ca., 4:50, bis ca. Grace Kelly), als dieser nach einigem hin und her – im Sinne von “jede Aussprache ist ok”, “mir egal”,… – doch einräumte, dass die korrekte Aussprache “G r a f i t e” sei – was natürlich für den ambitionierten Sportkommentator vergleichsweise langweilig ist und deshalb gerne mal ignoriert werden darf.

Oder es ist Kalkül. Je häufiger mein Nebensitzer, und mit ihm zahlreiche andere Zuschauer im ganzen Land, “Mein Name ist Grafite” sagen, desto weniger haben diese Menschen Gelegenheit, sich darüber zu ärgern, bzw. überhaupt wahrzunehmen, dass Steffen Simon zunächst fragwürdige Situationen selbst in der Wiederholung falsch einschätzt, dass er sich als Fanboy von Grafite, Dzeko und Lehmann geriert, dass er die dummen Zuschauer mit neuen taktischen Begrifflichkeiten, gerne aus dem Englischen entlehnt (“one touch football”), zu beeindrucken sucht. (Ergänzungen in den Kommentaren sind willkommen.)

Wenn jetzt jemand meint, ich projiziere meinen Ärger über das verlorene Spiel des VfB auf Steffen Simon, so hat er sicher teilweise recht. Teilweise deshalb, weil ein ähnlich großer Teil meiner Verärgerung dem zur Pause hinzugestoßenen Mitzuschauer gilt, der einen schwäbischen Bruddler in Perfektion gab: natürlich ist er VfB-Fan, klar, aber das ist ja wirklich schrecklich, was die Stuttgarter da spielen, und der Hleb hat ja alles verlernt, und wie sollen die je den Gomez ersetzen (ob letzterer in der Vorsaison auch so gut wegkam, sei dahingestellt), und wie wir Armen das ertragen, zu jedem Heimspiel und manchmal auch noch auswärts ins Stadion zu gehen, und “das wurde jetzt aber auch Zeit, dass die ein Gegentor kassieren”, die lassen die Wolfsburger ja machen, was sie wollen.

Genug.

Gestern startete die Bundesliga in die neue Saison. Ich habe mich riesig darauf gefreut, war nervös, als hätte ich selbst eine tragende Rolle inne, fieberte stundenlang auf 20.30 Uhr hin und strich wie ein Tiger im Käfig um den Fernseher herum – um dann, rechtzeitig zum vermeintlichen Spielbeginn, zunächst einer (Adjektiv nach Belieben einsetzen) Folkloredarbeitung beizuwohnen zuzusehen, ehe einige Legenden der Bundesligageschichte den Blick ganz langsam wieder auf das Wesentliche lenken sollten.

Was dann nicht zuletzt deshalb sehr gut gelang, weil der Meister aus Wolfsburg und der VfB von Beginn an zeigten, dass auch sie darauf hingefiebert hatten, endlich wieder um Punkte zu spielen. Es machte enormen Spaß, den beiden Mannschaften zuzusehen, und natürlich war es aus Stuttgarter Sicht eine besondere Freude, beide Neuzugänge, Aliaksandr Hleb und Pavel Pogrebnyak, von Beginn an auf dem Platz zu sehen. Erwartungsgemäß war dabei Pogrebnyak der aktivere, fittere, der viel lief und den Mittelfeldspielern gute Optionen anbot. Zwei sehr schöne Aktionen hatte er im Zusammenspiel mit Gebhart und Khedira, ein-, zweimal kam er auch selbst zum Abschluss, und deutete insgesamt an, dass er, wenn die Abstimmung mit den Mitspielern stimmt (ganz offensichtlich klappt die Kommunikation mit Cacau noch nicht optimal), ein ganz wichtiger Baustein der Mannschaft sein kann, will sagen: der von Markus Babbel erhoffte “target player” – ein Begriff übrigens, der von Steffen Simon allzu stiefmütterlich behandelt wurde.

Hleb war naturgemäß noch nicht der, den sich die Fans wünschen, und vielleicht wird er der auch nie sein. Der, den sich die Fans wünschen, scheint mir nämlich noch immer der Hleb zu sein, der vor vier Jahren den VfB verließ: ein Spieler, der sich hinter der Mittellinie in halblinker Position anspielen lässt und von dort in Serie zu begeisternden Soli aufbricht, die nicht selten zumindest in Tornähe enden, entweder mit einem eigenen Abschluss oder, häufiger, dem Zuspiel auf einen Mitspieler. Ich glaube nicht, dass er dieser Spieler noch ist, und ich glaube auch nicht, dass er der sein sollte. Ohne jeden Zweifel hat er unter Arsène Wenger einen anderen Stil erlernt, der ihn in ganz anderer Art undWeise in das Spiel der Mannschaft einbindet, der auf schnellem Passspiel basiert und der ihm erlauben sollte, seine individuellen Stärken, sowohl Einzelaktionen als auch die Fähigkeit, seine Mitspieler in Szene zu setzen, dosierter und letztlich effektiver einzusetzen. Die Schussstärke, die ihm in der ARD angedichtet wurde (in dem Fall, wenn ich mich recht erinnere, nicht von Steffen Simon, sondern von Reinhold Beckmann), würde ich indes nicht zu seinen herausragenden Fähigkeiten zählen.

Sami Khedira spielte offensiver als weithin erwartet, sodass das Mittelfeld mitunter einer Raute recht nahe kam. Er war sehr aktiv, hatte viele Ballkontakte und gute Szenen, spielte aber auch für seine Verhältnisse viele Fehlpässe. Dieses Problem zog sich durch die gesamte Mannschaft – wofür man am ersten Spieltag eine gewisse Milde aufbringen kann – und trübte ein wenig den guten Gesamteindruck. So bei Christian Träsch, der defensiv erneut zu überzeugen wusste, der ein Vorbild an Motivation, Einsatz und Courage war, der aber auch einige verheerende Abspielfehler produzierte, die glücklicherweise folgenlos blieben. Dass er nun einige Wochen auszufallen scheint, ist bitter – ganz besonders für ihn, aber auch für die Mannschaft, weil die Stabilität in der Hintermannschaft sicher noch nicht so ist, wie man sie sich erhoffen würde. Selbst Tasci, als absoluter Trumpf in der Defensive eingeplant, wird sich das 2:0 noch einige Male sehr zerknirscht anschauen müssen.

Alles in allem zeigte der VfB einen guten Saisonbeginn, verlor letztlich aber verdient gegen eine hervorragend eingespielte und sehr gut besetzte Mannschaft aus Wolfsburg. Jens Lehmann, dessen Leistungsstärke kürzlich im Sportblogger-Podcast ein wenig angezweifelt worden war, versetzte den Kommentator in Ekstase beeindruckte mit großartigen Reaktionen und ebensolchem Stellungsspiel, und Timo Gebhart setzte ein paar schön Duftmarken, denen zufolge die gegnerischen Hintermannschaften diese Saison auf den Außenbahnen möglicherweise recht flink sein müssen, um gegen Hleb und Gebhart zu bestehen. Hoffe ich zumindest.

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Zum Schluss noch zwei kurze Bemerkungen, nachem ich Hoffenheim-Bayern gesehen habe: zum einen hat man wieder einmal gesehen, dass ein guter Schiedsrichter einem Spiel eben auch gut tut. Dr. Felix Brych war gestern einer, Babak Rafati heute eher nicht – und damit beziehe ich mich nicht einmal auf das nicht gegebene Tor, so etwas wird immer wieder vorkommen. Aber insgesamt war Brych einfach souveräner und konnte es sich auch erlauben, das Spiel laufen zu lassen. Rafati hingegen übersah deutliche Fouls, während er an anderen Stellen übertrieben kleinlich agierte. Rafati eben.

Auch die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Schiedsrichter, ist aber genau genommen eine Frage: Gibt es eine Anweisung des DFB, die Nachspielzeiten zu verkürzen? Heute war es meines Wissens eine Minute, gestern gar keine – wenn man sieht, dass alleine Träsch gefühlte fünf Minuten (realistisch betrachtet werden es knapp zwei gewesen sein) behandelt wurde, steht das schon im Widerspruch zu den letztjährigen drei Standardminuten pro Halbzeit. Bereits beim DFB-Pokalspiel in Düsseldorf hatte dogfood zu Wochenbeginn mehrfach Ähnliches festgestellt.