Wir stellen uns das ja schon ziemlich einfach vor, ne?
“Felix, der war nicht drin”, sagt der eine.
“Ok, Stefan, dann halt nicht”, antwortet der andere, und gut is.
Dabei übersehen wir die wahren Klippen. Die nicht darin bestehen, dass man Angst hat, Mannschaftskeile zu bekommen, weil man die Prämie hergeschenkt hat, oder auch in irgendwelchen formalen oder karrierewunschbedingten Hürden, die einen davon abhalten, die getroffene Entscheidung zu revidieren.
Nein, lassen Sie es sich von jemandem sagen, der eigene Phantomtorschützenerfahrung gesammelt hat: das Problem ist die Infallibilität. Oder war es, damals, Mitte der Achtziger.
Ich spielte mein erstes Jahr in der B-Jugend und dort eine ganz gute Rolle, und wie es dann halt so ist in der Provinz, wo die Kader eng und die Wege weit sind, durfte ich des Öfteren Doppelspieltage einlegen, samstags in der B-, sonntags in der A-Jugend – wobei “durfte” meine Sichtweise war, die beiden Trainer sahen eher ein “musste”: der eine, weil er aus welchen Gründen auch immer meinte, mich oben zu brauchen, der andere, wohl der Vernünftigste von uns dreien, weil er fand, dass es mir auf Dauer nicht gut tun könne, und dass es zunächst reiche, samstags zu spielen.
Was dann mitunter zu der von außen betrachtet amüsanten Konstellation führte, dass der Samstagstrainer entschied, am Sonntag nicht mich (und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, den einen oder anderen Mitspieler), sondern ohne weitere Abstimmung einen oder mehrere Mannschaftskollegen zum Treffpunkt der A-Jugend zu schicken, die nicht zwingend die gleichen Positionen besetzen konnten. Was wiederum mich nicht in jedem einzelnen Fall davon abhielt, sonntags dennoch mit gepackter Kicktasche … ach, lassen wir das, zu spät für Geständnisse, und der B-Jugendtrainer liest eh nicht mit.
Genug des Vorgeplänkels. Wochentags war das Ganze unproblematisch, und so fieberte ich dem mittwöchlichen Kräftemessen mit der A-Jugend aus dem Nachbarort entgegen, genauer gesagt mit dem Nachbarort des Nachbarorts, da ja die A-Jugend selbst schon im Nachbarort kickte, im Rahmen einer Spielgemeinschaft. Sie wissen, was ich meine, nicht wahr? Im Übrigen waren sie auch Tabellennachbarn.
Das Spiel, ein Prestigeduell, sozusagen, begann denkbar schlecht, wir gerieten nach wenigen Minuten in Rückstand, fingen uns dann aber und erspielten uns eine deutliche Überlegenheit, die sich jedoch nicht in Toren ausdrückte. Nach einer guten halben Stunde wehrte der gegnerische Torwart einen Ball zur Seite ab, ich hatte aufgepasst und schoss aus ziemlich spitzem Winkel nach. Der Ball bewegte sich nahezu parallel zur Tor(aus)linie in Richtung des langen Pfostens und hätte diesen nach meinem Dafürhalten wohl auch getroffen.
Ob er von dort den Weg ins Tor gefunden hätte, werden wir nie erfahren, alldieweil** der gegnerische Libero (sic!) dem Treiben ein Ende bereitete und das Leder (sic!) aus der Gefahrenzone schlug. So weit, so gut. Wenn man davon absieht, dass der Schiedsrichter auf Tor entschied.
Der Gegner konnte es nicht glauben, wir auch nicht, ich begann, über einen Wahrnehmungsfehler meinerseits zu sinnieren, der gegnerische Libero erhöhte die Intensität seiner Proteste, was dem Schiedsrichter als Indiz für deren mögliche Berechtigung gelten hätte können, ich ließ mich von den Mitspielern feiern, die ersten Gegner frugen mich, eigene Wahrnehmungsfehler in Betracht ziehend, ob er wirklich drin gewesen sei, die Mitspieler stimmten ein, der Libero redete auf den Schiedsrichter ein, während dieser ostentativ den Ball auf den Anstoßpunkt legte.
Für mich war – nach Rücksprache mit dem Kapitän – der Punkt gekommen, der Wahrhaftigkeit Genüge zu tun und den Schiedsrichter auf seinen Irrtum hinzuweisen, was sich ungefähr folgendermaßen gestaltete:
“Herr Schiedsrichter, ich glaube, der Ball war nicht drin.”
“Ich schon”
“Nein, Herr Schiedsrichter, ich bin mir sicher, dass er nicht drin war.”
“Unsinn, der war drin.”
“Aber ich war doch viel näher dran als Sie, ich hab’s genau gesehen.”
“Wenn Du jetzt nicht aufhörst, gibt’s gelb. Hier entscheide immer noch ich.”
“Aber …”
Der Libero konnte nicht so recht glauben, was er da hörte, wurde noch ein wenig vehementer und flog vom Platz.
Unmittelbar nach der Pause gelang mir das, was man gerne mal einen Sonntagsschuss nennt (“am Mittwoch”, wie Fernsehreporter in jenen Tagen gerne mal hinzufügten, wenn es sich anbot, und es bot sich häufig an, samstags, damals, als Sonntagsspiele und damit Sonntagsschüsse den Amateuren und einzelnen Zweitligaspielen vorbehalten waren), möglicherweise der sonnigste Sonntagsschuss meiner gesamten aktiven Fußballzeit, aus 25 Metern, Pfosten und Latte berührend und diesmal auch unzweifelhaft die Torlinie überquerend. 2:1.
Mit einem dezimierten und irgendwie auch desillusionierten Gegner gestaltete sich die zweite Halbzeit eher einseitig, wir gewannen 6:1, und wenn ich es nicht schon vorher gewusst hatte, so war mir doch spätestens jetzt eines klar:
der Schiedsrichter hat immer recht.
* Korrekturen sind willkommen und erwünscht.
Mein Latinum hat ein paar Jahre auf dem Buckel.
** Auszug aus einem privaten Twitteraustausch nach Veröffentlichung des vorliegenden Textes:
Er: “… es geziemt sich nicht, alldieweil kausal einzusetzen.”
Ich: “Ich weiß. Deshalb tat ich es. Einfach, weil ich Lust dazu hatte. Ernsthaft. Aber danke.”
Er: “Dein Humor im vorsätzlich falschen Einsatz bildungsprahlerischer Vokabeln lässt mich ratlos zurück.”
Ich: “Ich finde alldieweil ja alles andere als bildungsprahlerisch. Oder falls doch, dann kontraproduktiv.”
Zugegeben: Mich lassen meine Launen manchmal auch ratlos zurück.