Wellenreiter

Das Flüchtlingsthema bewegt mich. Ja, schon klar, das ist nichts Besonderes, geht uns wohl allen so, vielleicht nicht in jedem Fall so, wie ich es mir wünschen würde, aber es bewegt. Wie ich es mir denn wünschen würde? Gute Frage. Da wollte ich schon lange mal was zu gesagt haben, brachte es aber bisher nicht auf den Punkt. Es ist ja leider nicht ganz so einfach, wie wir es gerne hätten. Wenn es aus Bayern heißt, man müsse wegen des Oktoberfestes einen Riegel vorschieben, dann lässt sich das erst einmal leicht von der Hand weisen, garniert mit dem Hinweis auf die CSU und ihr Weltbild. Hab ich auch getan. Wenn aus dem hiesigen Staatsministerium ein vorübergehender Aufnahmestopp verkündet wird, und sei er nur von kurzer Dauer, echauffieren wir uns zwar reflexartig, aber auch begründet. Schließlich gilt die Maxime Refugees welcome!

Gleichzeitig wissen wir, der Vernunft und unserem gesunden Menschenverstand folgend, dass es im einen wie im anderen Fall, und nicht nur in den genannten, objektiv gesehen stichhaltige Gründe gibt. Hinsichtlich des Oktoberfestes haben die taz und die Süddeutsche, die beide nicht zwingend im Verdacht stehen, Herrn Seehofer über die Maßen zu verehren, deutlich gemacht, dass München die Belastungen nicht stemmen könnte. Und dass Verwaltungen und Standorte, so auch in Baden-Württemberg, kurzzeitig an Grenzen stoßen können und in dieser Zeit andere noch etwas stärker in der Pflicht stehen, sollte selbstverständlich sein. Was zum Beispiel für Baden-Württemberg in der vergangenen Woche galt, aber eben auch für München in den kommenden Wochen gelten sollte – nicht zuletzt im Lichte der mehr als bemerkenswerten Arbeit, die dort in den letzten Wochen geleistet wurde.

Aber ich wollte gar nicht in die Grundlagen der deutschen und europäischen Asylpolitik einsteigen. Zum einen mangels vertiefter Kenntnisse, zum anderen in der Überzeugung, dass aktuell nicht binnen Tagen in vernünftige Bahnen gebracht werden kann, was man über Jahre versäumt hat. Natürlich muss man konzeptionell Dinge verbessern, und zweifellos muss man anerkennen, dass es eine theoretische Grenze der Belastbarkeit gibt, über deren Verortung man trefflich streiten kann. Dass sie, bundes- und EU-weit betrachtet, noch lange nicht erreicht ist, darüber besteht, wenn ich nicht furchtbar irre, in meinem Umfeld weitgehend Konsens.

Doch wie gesagt: die Priorität liegt gegenwärtig nicht bei Grundsatzfragen, oder sollte sie zumindest nicht. Vielmehr geht es, wir wissen es alle, haben die Sondersendungen verfolgt, die Bilder gesehen, uns in der einen oder anderen Form eingebracht, um schnelle, tatkräftige Hilfe, um die Verhinderung von Katastrophen, vielleicht auch nur deren Milderung, um Menschlichkeit und, ja, Nächstenliebe. Große Worte, die nicht ohne Grund groß sind.

Deshalb steht über allem im Moment die rasche, unmittelbare Hilfe für Menschen, deren Verzweiflung wir vermutlich nicht begreifen können. Die “Reisen”, die sie auf sich genommen haben, die sie ihren Familien und Kindern aufbürden, und die mit Adjektiven wie “abenteuerlich”, “wahnwitzig” oder “lebensgefährlich” nicht einmal ansatzweise beschrieben sind, dürften uns aber eine Ahnung vermitteln. Sie brauchen unseren Beistand, und viele haben ihn in den letzten Wochen bekommen. Gleichzeitig wissen wir alle, dass die beeindruckende Hilfswelle nicht ewig anhalten kann, nicht zuletzt deshalb, weil sie nach wie vor auf zu wenigen wirklich tragfähigen Schultern ruht.

Umso wichtiger ist es, dass die Botschaft nach draußen getragen wird, auch zu jenen, die in den vergangenen Wochen und Monaten keinen rechten Grund sahen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, oder zu jenen, denen wieder und wieder suggeriert wurde, dass die Not leidenden Menschen vor unserer Tür gar nicht Not litten, dass sie nicht in erster Linie von Zuhause weg wollen (was per se eine starke Vermutung ist), sondern dass sie im Grunde in erster Linie hierher wollen, zu uns, nach Deutschland, weil es ihnen hier, weit weg von daheim, noch besser geht als dort, weil sie uns unseren Wohlstand streitig machen, unsere Arbeit rauben, unsere Frauen und Männer wegnehmen und unsere Kinder fressen wollen.

Dass Menschen so etwas glauben, liegt zu einem ganz wesentlichen Teil an der BILD. Andernorts werden Sie B*LD lesen, oder ZEITUNG, oder die Zeitungsattrappe mit den vier Buchstaben, oder das Springer-Hetzblatt, oder das Organ der Niedertracht. Letzteres schreibe ich auch gerne mal, Max Goldt zitierend, Sie wissen schon. Grundsätzlich neige ich gleichwohl dazu, aber das nur am Rande, sie beim Namen zu nennen. Wir wollen sie dann ja auch nicht mystifizieren und Herrn Diekmann zum Dark Lord stilisieren.

Wie auch immer: diese BILD ist seit Jahr und Tag ganz weit vorne dabei, um es sehr zurückhaltend ausdrücken, wenn es darum geht, gegen ausländische Mitbürger, Migranten, Asylbewerber, Flüchtlinge, kurz: “kriminelle Ausländer” zu hetzen. Ich werde das nicht mit Verweisen belegen, zähle es vielmehr zum Kanon unseres Allgemeinwissens.

Und eben diese BILD hat kürzlich eine Kehrtwende vollzogen. Eine Kehrtwende, die der wunderbare Wochenendrebell, dessen Verve und Entschlossenheit beim Einsatz für Flüchtlinge und gegen Nazis, Rassisten und so weiter mich Tag für Tag aufs Neue beeindrucken, sehr treffend als die “[aktuelle], zeitlich wie immer [befristete] Bild-Botschaft, Flüchtlinge wären in Deutschland willkommen” bezeichnet. Schließlich wissen wir alle, dass sich der Wind gerade dort recht zügig wieder drehen wird.

Im Moment aber inszeniert man sich, ich sagte es, als Begründer einer neuen Empfangskultur, und, ja, erreicht damit auch Menschen. Es mag sein, dass sich diese Menschen darüber wundern, dass all das, was ihnen seit Jahren eingetrichtert wurde, nun gar nicht mehr stimmt. Es sollte nur nicht sein, dass diese Menschen in einigen Wochen die erneute Kehrtwende hin zur Diffamierung der bösen Asylanten auch wieder mitmachen.

Für den Moment aber: hey, super, BILD! Schöne Botschaft. Und weil wir grade dabei sind, Öffentlichkeit zu schaffen für “Refugees welcome”, spielt BILD gleich den höchsten Trumpf: sie koaliert mit der Bundesliga. Und die macht freudig mit. Ist doch klasse! Nirgends erreicht man so viele Menschen wie beim Fußball, und möglicherweise findet man auch kaum irgendwo anders so viele, sagen wir, in Flüchtlingsfragen Unentschlossene oder bisher nur leicht in die andere Richtung Geneigte, die zu sensibilisieren sich lohnen würde.

Abgesehen von der etwas unglücklichen Verwendung von “sensibilisieren” im Zusammenhang mit der BILD bleibt festzuhalten, dass das vermutlich stimmt. Die Bundesliga ist in der Pflicht, diese Menschen zu erreichen, der VfB Stuttgart, der wie viele andere Vereine schon einiges tut, ist in der Pflicht, und wenn es der Sache dient, dann sollen sie halt in Gottes Namen mit dem Teufel paktieren, solange er noch das Engelsgewand trägt.

So kann man es sehen. Und ich gebe zu, im Grundsatz bin ich ein großer Anhänger der Haltung, dass es um die Sache geht und nicht darum, wer sich einen Erfolg letztlich auf die Fahnen schreibt. Ergebnis schlägt Eitelkeit, und Ergebnis schlägt bis zu einem gewissen Grad sogar den fauligen Geschmack im Mund, wenn man sich mit einem Organ der Niedertracht eingelassen hat, dem man keine zwei Millimeter über den Weg traut. Schließlich geht es um die Flüchtlinge, und wer wäre ich, wer wäre der VfB Stuttgart, wer wäre Hermes, wer die Bundesliga, sich der Fansensibilisierung mit Hilfe der BILD zu verschließen?

Schließlich geht es um die Flüchtlinge, sagte ich. Ist das denn wirklich so? Oder ist es vielmehr so, dass die BILD eine Welle reitet, die zufällig gerade, bitte verzeihen sie die Formulierung, ein paar Flüchtlinge an Land spült, an ein fürs Erste rettendes Ufer? Eine Welle, die bei der nächsten Flaute, und die kommt gerne mal ziemlich schnell, längst vergessen ist, an einem Strandabschnitt, den die Wellenreiter längst wieder verlassen haben, nicht ohne noch ein bisschen, im Zweifel auch lautstark, über den ganzen Dreck zu schimpfen, den die Welle dort hingetragen hat. Ach, Metaphern! Aber Sie verstehen mich, hoffe ich.

BILD zumindest geht es eher am Rande um die Flüchtlinge, wie Chefredakteur Diekmann heute in bemerkenswerter Weise deutlich machte, als bekannt wurde, dass der FC St. Pauli keinen von BILD gesponserten Aufnäher mit der Aufschrift “Wir helfen” bzw. #refugeeswelcome tragen wird. Der Verein verwies durch Andreas Rettig auf bestehende diesbezügliche Aktivitäten. Er verwies nicht auf seine grundsätzliche Haltung zur BILD, aber selbst der kicker, der sich nicht entblödete, von einem “Boykott” durch St. Pauli zu sprechen, bemerkte, zwischen den Zeilen, dass der offizielle Grund nicht der einzige sein dürfte.

Wie auch immer: als St. Paulis Ablehnung bekannt wurde, äußerte sich Diekmann bei Twitter dahingehend, dass der FC St. Pauli “kein Herz für Flüchtlinge” habe, bzw. noch direkter, dass “#refugeesnotwelcome” seien. Auf bild.de garnierte man zudem einen Artikel, in dem Vertreter einiger Bundesligavereine die BILD-Aktion und sich selbst ein bisschen feierten, mit einem unverschämten Kommentar:

“‘… Wir helfen – #refugeeswelcome‘ ist eine großartige Initiative, die wir sehr gern unterstützen!’

Schade, dass das nicht alle so sehen…”

Wie kommt dieses Organ der Niedertracht, und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es eines ist, wäre dieser spätestens heute erbracht gewesen, dazu, die Aktivitäten des FC St. Pauli, eines Vereins, dem man manches nachsagen kann, der einem zu kultig und in Marketingfragen zu kreativ sein mag, dessen Engagement in sozialen Fragen und auch und gerade bei Themen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder eben der Hilfe für Flüchtlinge aber nicht nur völlig außer Frage steht, sondern vielmehr weithin als führend gilt, wie kommt konkret dieser spätberufene Zwischendurchflüchtlingsversteher dazu, St. Pauli derart zu diskreditieren? Ach ja, klar: die Welle. Um die geht es. Und kurzfristig werden ein paar Flüchtlinge an Land gespült.

Lieber VfB Stuttgart, liebe Bundesliga, mal im Ernst: das könnt Ihr doch alleine, das mit dem Engagement für die Flüchtlinge? Da braucht Ihr doch keine BILD? Und keine Welle. Ein langer, ruhiger Fluß, das wär doch was. Der in diesen Tagen gerne etwas zügiger fließen darf, der aber vor allem nicht in einigen Wochen versiegt.