Stuttgarter Haupttribünen-Hooligans und ein Rumpelstilzchen aus Sinsheim

Als Schiedsrichter Michael Kempter nach dem 3-3 zwischen dem VfB und den Sinsheimer Gästen das Feld verließ, zeigte die Haupttribüne ungewohnte Emotionen: Getränkebecher, Stadionzeitschriften,… ohne den schützenden Kunststofftunnel hätte Kempter wohl riskiert, mit Boninsegna in einem Atemzug genannt zu werden.

Auch wenn man einräumen muss, dass der Elfmeter, den Kempter in letzter Sekunde gegeben hat und der offensichlich die Gefühlswallungen der Haupttribünen-Hooligans auslöste, durchaus in Ordnung ging: die harsche Kritik war alles andere als unangebracht. Kempter stand zu keiner Zeit im Verdacht, das Spiel im Griff zu haben.

Offensichtlich hatte Markus Babbel seinen Mannen vor dem Spiel eingeimpft, sich auch mal auf Kosten einer gelben Karte Respekt zu verschaffen: Khedira, Hitzlsperger, Cacau und weitere Rote taten alles dafür, der Anweisung des Trainers Folge zu leisten – allein, Kempter spielte nicht mit. Er verweigerte ihnen, wie auch dem einen oder anderen Gästekicker, die wohlverdiente Verwarnung. Sicher, insbesondere der VfB war mit einer aggressiven, teilweise ruppigen Marschroute ins Spiel gegangen; dass die Stimmung aber zunehmend giftig wurde, hat sich der Unparteiische selbst zuzuschreiben. Der von ihm gewählte Versuch, eine aus dem Ruder gelaufene Spielleitung dadurch zu retten, dass er in der zweiten Hälfte eine Weile jeglichen Körperkontakt abpfiff, war ein untauglicher und verstärkte den Unmut von Spielern und Zuschauern so weit, dass man eben auch auf der Haupttribüne seine Kinderstube vergaß.

Über Jens Lehmanns Kinderstube möchte ich an dieser Stelle nicht mutmaßen, zumal meine kritische Haltung zu seinem Verhalten der regelmäßigen Leserin bekannt sein dürfte. Die viel diskutierte Schuhszene habe ich während des Spiels nicht mitbekommen. Mag einerseits sein, dass sein Verhalten nicht fair war, mag andererseits sein, dass er angesichts der Spielsituation keine andere Wahl hatte, als den Schuh rasch wegzuschmeißen (wenn er übrigens, wie die Verschwörungstheoretiker der Sportschau unterstellten, tatsächlich in der Lage ist, einen Schuh mit einem Rückhandwurf von außerhalb des Strafraums unerreichbar für den Besitzer auf dem Tornetz zu platzieren, dürfte seiner Anschlusskarriere im Zirkus nichts im Wege stehen). Wie auch immer: in Lehmanns Aktion das Unsportlichste zu erkennen, das er je auf einem Fußballplatz gesehen habe, ist selbst für die Standards des Sinsheimer Rumpelstilzchens Ralf Rangnick eine ungewöhnliche Sichtweise.

Zum Spiel:
Wie bereits oben geschrieben, gingen die Stuttgarter sehr aggressiv in die Partie und ließen so dem Gast aus Hoffenheim wenig Möglichkeiten, sein Kombinationsspiel zu entwickeln. Die einzige Ausnahme bildete überraschenderweise der müde Schatten eines Kannibalen, der zudem erschreckende technische Mängel erkennen ließ: vor dem 0-1 missglückte Khalid Boulahrouz eine einfache Ballannahme derart, dass der Ball ins Aus sprang. Aus dem Einwurf entstand die Führung, an der wiederum der Niederländer seinen Gegenspieler nicht hinderte.

Konnte man Boulahrouz’ Schwäche noch einigermaßen kompensieren, so war dies nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden des diesmal ganz gut aufgelegten Boka und der Hereinnahme des zweiten Unsicherheitsfaktors “Lude” Magnin ein weitaus schwierigeres Unterfangen. So konnte es kaum überraschen, dass der dem Vernehmen nach kränkliche Magnin den Sinsheimer Gästen nach der zwischenzeitlichen VfB-Führung den kurz vor der Pause obligatorischen Gegentreffer auf dem Silbertablett präsentierte. Es ist einfach zu wenig, auf der linken Verteidigerposition die Wahl zwischen, naja, keinesfalls Pest und Cholera, aber vielleicht einem Reizhusten und einer rätselhaften Allergie zu haben.

In der zweiten Hälfte ließ Hoffenheim den VfB deutlich weniger zur Entfaltung kommen als zuvor und zwang den VfB in der Vorwärtsbewegung immer wieder zu riskantem Spiel und den entsprechenden Fehlern. Eher überraschend dann die neuerliche Führung durch Mario Gomez, der einen Pass des sehr starken Osorio zwar etwas glücklich, letztlich aber in beeindruckender Manier ins Netz hob. Wie nicht anders zu erwarten, war die Freude erneut von sehr kurzer Dauer: ein langer Pass von Innenverteidiger Compper reichte aus, um die VfB-Abwehr auszuhebeln (ich verzichte darauf, den Vergleich mit ähnlichen Situationen im Kreisligafußball auszuformulieren). Dabei sah zwar auf den ersten Blick Serdar Tasci nicht gut aus; meines Erachtens war es aber erneut Boulahrouz, der mit einer seltsamen Vorwärtsbewegung Ba die entsprechenden Meter Platz und Tasci das Nachsehen gegeben hatte.

Kurz vor Schluss dann eine folgerichtige Entwicklung: Salihovic verschoss den Elfmeter, für den er selbst durch sein rüdes Foul an Boka den Grundstein gelegt hatte. Dessen Vertreter Magnin hatte geduldig gewartet, bis der Hoffenheimer Angreifer in den Strafraum eingedrungen war, um ihn dann mit einer ungeschickten Schrittfolge eher zufällig -gleichwohl strafstoßwürdig- zu Fall zu bringen.

Insgesamt war es ein sehr sehenswertes Derby mit einer effizienten Hoffenheimer Mannschaft und einem selbstbewusst auftretenden VfB, der jedoch in der zweiten Hälfte zwar noch die Leidenschaft, aber nicht mehr die spielerischen Mittel hatte, Hoffenheim unter Druck zu setzen, und der vor allem ein Defensivproblem hat.

Für mich als Zuschauer war es eine emotional außergewöhnlich anstrengende Partie, eines Derbys weitaus würdiger als beispielsweise die letzten Spiele gegen den KSC. Packender Fußball “hier und jetzt” ist mir persönlich deutlich wichtiger als die Dauer der Zugehörigkeit zum Profifußball. Aber da vertrete ich wohl eine Minderheitenmeinung.

Ungeachtet des gerade Gesagten ziehe ich meinen Hut vor der gelungenen Choreographie des Commando Cannstatt, die das Thema Tradition geschickt anhand der eigenen Historie illustrierte.


Tor des Tages: Müller

Einige potenzielle Toren drängten sich am Samstag natürlich auf, man denke nur an Magnin, Boulahrouz oder Salihovic. Die Auszeichnung geht jedoch eindeutig an Hansi Müller. Mir fehlen die Worte, wenn einer der besten Spieler, die der Verein je hervorgebracht hat, unmittelbar vor dem Spiel ein Interview gibt, dessen einziger -sicherlich gut bezahlter- Inhalt die aktuelle Rabattaktion eines regionalen Möbelhauses ist. Ich hoffe sehr, dass sich Stadionsprecher Christian Pitschmann, der im wahren Leben Journalist ist, dabei zumindest auch ein wenig unwohl gefühlt hat.