Der gemeine Anhänger des VfB Stuttgart gibt sich seit Wochen, vielleicht Monaten, einer Illusion hin: er glaubt tatsächlich, es könne einen Weg geben, die Saison nach dem 33. Spieltag abzuhaken. Auf dass man am 14. Mai in der Gewissheit nach München fahre, erstklassig zu bleiben. Auf dass der VfB, dem Abstieg gerade von der Schippe gesprungen, befreit aufspielen und vielleicht sogar den Bayern noch die Qualifikation für die Champions League verwehren könne. Ganz davon abgesehen, dass es mir herzlich egal ist, wer in der nächsten Saison in der Champions League antritt (möglicherweise nicht einmal das, weil ich den Bayern durchaus zutraue, den DFB dort erfolgreicher zu vertreten als Hannover 96):
Leute, das können wir vergessen. In München geht’s drum. Die Frage ist nur: worum genau? 17 vs. 16 oder 16 vs. 15?
Sicher, zuletzt dachte ich auch, dass sich in ein paar Wochen Entspannung breit machen könnte. Die Ergebnisse waren ja ganz gut, und wenn man jetzt noch ordentlich spielen würde, wäre der VfB überhaupt nicht mehr aufzuhalten. Ok, das vielleicht nicht, zumindest aber sollte es reichen, um gegen Kaiserslautern zu bestehen. Zumal man dieses “bei denen reicht die Qualität einfach nicht” irgendwann ja fast schon selbst glaubt.
Zurück zur Illusion: es war vermessen, darauf zu hoffen, dass man sich weiterhin ohne Struktur und Einfälle von Sieg zu Sieg zu Punktgewinn wurschteln würde, es war arg optimistisch, daran zu glauben, dass die Nachlässigkeiten in der Abwehr auch in den nächsten Wochen nicht bestraft würden, es war naiv, zu erwarten, dass Sven Ulreich bis zum Saisonende nie mehr schlecht aussehen und der Mannschaft ein Spiel nach dem anderen gewinnen würde, es war weltfremd, davon auszugehen, dass Bruno Labbadia die Sache mit Christian Gentner und der Spielmacherposition irgendwann doch noch begreifen würde. Vermutlich war es zuviel des Guten, Christian Träschs absolute Zuverlässigkeit als gegeben vorauszusetzen oder zu unterstellen, dass Cristian Molinaros wieder erwachte Offensivqualitäten seine Defensivmängel stets aufwiegen würden.
Immerhin: gestern war er leicht im Plus, wenn man sich an Zählbarem orientiert, wozu ich in diesem Fall nur bedingt neige. Ein herausgeholter Elfmeter und die Vorbereitung zum 2:1 (wieder einmal so ein Treffer, der es in Deutschland leider nie zum Tor des Monats bringen wird) stehen dem 0:1 gegenüber, als er Christian Träsch ins Feuer schickte. Und einer ganzen Reihe weiterer Aktionen, deretwegen Labbadia schon nach einer Viertelstunde Arthur Boka zum Aufwärmen schickte, die aber nichts Zählbares für Kaiserslautern brachten. Auf der Negativseite steht zudem die, nun ja, ziemlich dumme Entscheidung, sich nach besagtem 2:1 aus der offensichtlichen Genugtuung heraus mit den eigenen Fans anzulegen.
Möglicherweise war es auch etwas voreilig, den neuen Zusammenhalt der Mannschaft allenthalben anzupreisen – und daran zu glauben. Natürlich hat Georg Niedermeier das Recht, im Interview darauf hinzuweisen, dass er nicht Srdjan Lakic zugeordnet gewesen sei. Wenn er die Antwort dann noch mit dem Hinweis garniert, dass er auch gerne mal so frei zum Kopfball kommen würde, dürfte er inhaltlich ebenfalls richtig liegen. Bei Frank Rost würde man in so einem Fall vielleicht sogar lobend davon reden, dass er Dinge beim Namen nennt. Mir persönlich wäre ein weichgespültes “da hat unsere Zuordnung nicht gestimmt, darüber müssen wir reden, aber intern” lieber gewesen als der implizite Auftrag an das ZDF, den wahren Schuldigen aufzuspüren. Ja, vielleicht interpretiere ich über.
Eine andere Frage, die sich daraus ergibt, ist die, ob es wirklich sein kann, dass – wie das ZDF unterstellt und auch die Stuttgarter Zeitungen unter expliziter Berufung auf Labbadia vermelden – Martin Harnik derjenige sein sollte, der Lakic am Kopfball hindert. Sofern ich mich nicht verzählt habe, erzielte der FCK 11 seiner 40 Tore per Kopf. 6 davon verteilen sich auf 6 Spieler, die anderen 5 nickte Lakic ein. Da hätte man sich durchaus vorstellen können, einen ausgewiesenen Kopfballspezialisten gegen ihn zu stellen. Falls der tatsächlich Harnik hieß, wäre ich geneigt, oben noch ein paar Sätze zu Bruno Labbadia zu ergänzen und den bestehenden Kategorien “naiv”, “weltfremd” bzw. “zuviel des Guten” zuzuweisen.
Aber wie gesagt: in allererster Linie war ich selbst naiv. Als ich das Spiel gegen Kaiserslautern in der 60. Minute schon nahezu abgehakt hatte, und mit mir nicht wenige andere (nicht zuletzt die auf dem Platz), weil Kaiserslautern zuvor ja über weite Strecken genauso schlecht gewesen war wie der VfB. Als ich tatsächlich glaubte, und mit mir nicht wenige andere, der Weg führe nun unaufhaltsam nach oben und das Thema Abstieg sei möglicherweise in drei Wochen durch. Als ich mich der Bayern-Illusion hingab.
Und wenn ich ehrlich bin, habe ich Sorge, die Qualitätsfrage demnächst noch einmal stellen zu müssen.