Gewissensprüfung

Keine Sorge, ich will jetzt nicht von alten Zeiten erzählen, von damals, als wir noch eine Wehrpflicht hatten, von Glaubens- und Gewissensgründen, von konstruierten Beispielen mit bedrohten Familienangehörigen und zufällig herumliegenden Waffen. Oder von meiner Dankbarkeit gegenüber all jenen, die sich der Gewissensprüfung unterzogen und uns später Geborenen den Weg zum Zivildienst erleichterten.

Mein Gewissen wird jedes Jahr geprüft.
Jeden Herbst, um genau zu sein.

Bin ich noch immer gewillt, am Samstag der Familie stundenlang den Rücken zu kehren, um mir eine von zahlreichen Niederlagen des VfB anzusehen? Steht es nach der fünften Niederlage in 6 Spielen noch unverrückbar fest, das ich auch am nächsten Wochenende ganz selbstverständlich ins Neckarstadion gehe, um die Partie gegen eine weder überdurchschnittlich sympathische noch überdurchschnittlich attraktiv spielende Bundesligamannschaft nicht nur anzuschauen, sondern die eigene Mannschaft nach Leibeskräften (klingt irgendwie… körperlich, nicht?) zu unterstützen? Gebe ich mich erneut wochen- oder gar monatelang mit spielerisch uninspirierten Vorstellungen zufrieden, nehme reihenweise individuelle Fehler hin, und ein Abwehrverhalten, das zu häufig an eine Schülermannschaft erinnert?

Lasse ich mich einmal mehr mit dem Hinweis vertrösten, dass die Vorbereitung wegen der vielen WM-Teilnehmer so schwierig gewesen sei, ganz zu schweigen von der unglücklichen Fügung, dass man erneut potenziell entscheidende Positionen erst am Ende der Transferperiode besetzt hat? Oder anders: ignoriere ich wieder einmal meinen Eindruck, dass andere Vereine diesem Problem nicht Jahr für Jahr nahezu hilflos gegenüber stehen?

Will ich ein weiteres Jahr mit den Schultern zucken, wenn die akustische Auseinandersetzung mit dem Gegner nur selten über “Scheiß KSC”, “Ruhrpottkanacken” oder “Dortmunder Arschlöcher” hinausgeht? Wenn der zumindest ansatzweise kreative nicht plump beleidigende Versuch eines Teils der gefühlten Cannstatter Kurve, den Ruf “Stuttgarter Arschlöcher” mit “Ihr werdet nie Deutscher Meister” zu beantworten, rigoros überstimmt und in ein glorreiches “Scheiß Leverkusen” überführt wird?

Soll ich mich auch in dieser so katastrophal beginnenden Saison regelmäßig über die lokale Presse ärgern, anstatt den VfB einfach mal VfB sein zu lassen? Mich wundern, dass die Stuttgarter Zeitung bei der Aufstellung verlässlich daneben liegt, gerne auch mal gesperrte Spieler in der Startelf erwartet?

Bin ich bereit, die Versuche des Vereins, mich zur Stadionkarte zu zwingen, weiterhin hinzunehmen? Das Netz zieht sich weiter zu. Der Weg vom PSV, wo man sich noch mit (einer zunehmenden Menge) Bargeld verköstigen kann, zur Kurve ist für diese Saison gesperrt worden. Aus Sicherheitsgründen, heißt es. Anders gefragt: bin ich bereit, meine “Stadion”wurst demnächst Stunden vor dem Spiel in der Stadt zu essen, oder bleibe ich dann doch ganz daheim?

Die Antworten sind klar. Auch nach einem wahrlich verheerenden Auftritt gegen Leverkusen.

Ja, die Familie weiß das. Ja, selbstverständlich schaue ich mir auch Frankfurt an und unterstütze die Mannschaft. Nein, ich gebe mich nicht zufrieden, gehe trotzdem hin und hoffe.

Nein, ich bin entsetzt und ignoriere meinen Eindruck nicht. Aber ich gehe weiterhin hin.

Ja, ich nehme das hin. Entscheide selbst, an welchen Fangesängen ich mich beteilige. Und freue mich, wenn bei einem furchtbaren Spiel ein gänzlich unerwartetes, von mir noch nie gehörtes “Wenn wir wollen, fressen wir Euch auf!” kommt, dessen absurde Komik sich dem nicht Dabeigewesenen kaum erschließen dürfte.

Nein, ich soll nicht, aber ich tu’s. Auch hier gilt: man gibt die Hoffnung nicht auf. Und freut sich über die Positivbeispiele.

Ja, ich nehme das hin. Bin entschlossen, mich nicht kleinkriegen zu lassen. Lege aber die Hand für mich nicht ins Feuer.