“Wahnsinn, diese Harmonie!”, sagte entrückt der nonkonformistische Anwalt, neben dem Kamke irgendwann eher zufällig stand. “Die kennen sich doch alle gar nicht”, fuhr der Mann fort, während Kamke gleichzeitig die deutlich unterschiedliche fußballspezifische Herkunft und Sozialisation ansprach, die einer derart rührenden Verbrüderung doch eigentlich entgegenstehen sollte. Ungeachtet dieser offenkundig unterschiedlichen Schwerpunkte stimmten Kamke und der Anwalt einander kurz zu und gingen ihrer Wege, noch nicht ahnend, dass sie am Ende der beinahe zweieinhalb Tage feststellen und zumindest einseitig bedauern würden, sich wieder einmal kaum miteinander unterhalten zu haben.
Die Reue war indes von kurzer Dauer. Gewiss, schön wär’s gewesen, aber so sei es nun mal, wie Kamke auch mit jener Dame erörtert hatte, deren Axt ein Ruf wie Donnerhall vorauseilte und die doch nur das ganze Wochenende über entweder selig lächelnd oder in inniger Umarmung mit vermeintlich wildfremden Menschen, oder aber, dritte Möglichkeit, in der Schnittmenge anzutreffen war: “Es liegt halt in der Natur der Sache. Unvermittelt gerät man aus einem sehr aufschlussreichen Dialog in eine andere, überaus erquickliche Unterhaltung hinein, die man dann nur …” “ … wegen eines total interessanten dritten Gesprächs wieder verlässt”, wie eine weitere Dame ergänzte, die als “Frau des Schiedsrichters” zu bezeichnen Kamke sich wohlweislich verkniff, der eigenen Identität wegen, “aber ziemlich eindeutig in der Aussage wäre es schon”, dachte der Gemahl von Frau Kamke bei sich, ließ die Sache auf sich beruhen und wandte sich einem weiteren hinreißenden Gespräch zu.
Früher hatte Kamke ja geglaubt, er komme des Fußballs wegen. Oder es zumindest so dargestellt, wenn man ihn frug, was es denn mit diesem Wochenende auf sich habe, diesem #tkdingens, dessen offiziellen Namen er nach wie vor nur unter Protest und körperlichen Schmerzen auszusprechen bereit war. Was ja auch stimmte – natürlich kam er des Fußballs wegen. Des Fußballturniers, der #coupedamour, deren oder dessen offiziellen Namen er nach wie vor noch nicht einmal unter Protest und körperlichen Schmerzen auszusprechen bereit war.
Und doch war es noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Zum einen kam er in der Tat auch des anderen Fußballs wegen, jenes sogenannten großen Fußballs, der ihn überhaupt erst mit diesen ganzen Internetleuten zusammengeführt hatte. Die dann wiederum, seien wir ehrlich, den Hauptgrund darstellten. “Hand aufs Herz”, sagte Kamke zu sich selbst, “mit wem haste denn da wirklich über Fußball geredet, und wie lange?” Kamke fühlte sich ertappt. Beim Schiedsrichterquiz habe er sich ein paarmal gemeldet, brachte er vor, zudem irgendwann kurz über die Paranoia der HSV-Fans gelästert, aber das sei ja eher ein Hobby. Ach, und die Fachsimpelei über die Aufstellung an der Stadiondecke nicht zu vergessen!
Zum anderen, und nun hörte er sich selbst sehr deutlich “Jetzt mal Butter bei die Fische!” sagen, räumte er, leise und von sich selbst abgewandt nuschelnd, ein, dass es wohl doch “wgn dr Mnschn” sei. Doch so leicht ließ Kamke ihn nicht aus der Nummer heraus. Deutlicher solle er reden, lauter, verständlicher, ausführlicher sei auch nicht schlecht. “Na gut”, entgegnete er noch leicht zögernd, um sich dann doch auf den Tisch zu stellen und “Oh Captain, mein Captain!” zu rufen etwas deutlicher zu äußern:
“Es geht um die Leute, und nur um die Leute. Die fußballaffin sind, klar, und verrückt genug, wegen ein paar anderer fußballaffiner Leute durch die ganze Republik zu fahren, im Einzelfall sogar darüber hinaus bis zum #tkaustria. Vielleicht hilft die Gewissheit, in etwaigen unangenehmen Gesprächspausen jederzeit nahtlos zu Gijón, dem Meister der Herzen, Daniel Simmes’ Tor des Jahres oder Rivelinos Freistoß gegen die DDR übergehen zu können, allein: Es ist nicht nötig. Da trifft man Menschen, die man seit Jahren kennt, oder auch erst seit ein paar Wochen, und es tut nichts zur Sache, wie virtuell oder wie physisch dieses Kennen ist, und man redet über Gott (selten) und die Welt (schon eher), über sportliche Rivalitäten und Stalker, Tennis und Darts, Freude und Traurigkeit, über Jobs und [hier was mit hihi einsetzen] oder das Leben an sich. Das ist der #tkdingens, und ja, gekickt wird auch, und das ist ganz wunderbar, aber ein bisschen ist es auch egal, also zumindest das Ergebnis, und es ist erst recht egal, wo das Ganze stattfindet.”
Das gehe jetzt ein bisschen weit, sagte Kamke zu sich selbst, also erstens sein leicht schmieriger Tonfall, zweitens sein ach so hehrer olympischer Gedanke, und drittens und vor allem die Geringschätzung der Gastgeber. “Geringschätzung?!” entgegnete Kamke, “Welche Geringschätzung?” Au contraire!” (Seine Frankophilie trug er wie so oft auf der Zunge.) “Die Münchner haben das ganz wunderbar gemacht! Das Stadion war toll, bisschen später essen vielleicht, aber gut und egal, das Rahmenprogramm sei ebenfalls ganz wunderbar gewesen, hörte ich, und die #coupedamour war ja eh ein Träumchen. Guter Platz, das kann man ja ruhig mal zugeben, Duschen für sieben Spieler, und die Sache mit den gelosten Teams hat ja auch mehr als ordentlich funktioniert. Was ich nur sagen wollte und seit Monaten, ja Jahren, sage: Am Ende ist es völlig egal, wo das Ganze stattfindet. Der Ablauf ist dann vielleicht nicht immer und überall so perfekt wie in München oder Hamburg oder Köln, wobei ich das noch nicht einmal glaube, dieses Twitter kann verdammt viel und findet überall verdammt gute Leute. Ein Fußballplatz wird sich finden, ein Ort zum Feiern auch, Fernverkehrsanbindung wäre ganz hilfreich. Wäre schön, wenn der Ort für 2018 in diesem Geiste gefunden oder ausgewürfelt würde.”
Das habe er doch alles schon mal gesagt, also das mit der Ortsfindung, und es sei jetzt auch mal gut damit, hielt er sich selbst entgegen, und überhaupt solle er jetzt nicht länger um das verkackte Finale herumschleichen, das sei ja wohl ziemlich erbärmlich gewesen. Ob sie denn überhaupt einen Torschuss abgegeben hätten? “Nun”, relativierte Kamke, nicht ganz frei von einem gewissen Team- und Vaterstolz, “zunächst einmal haben wir das ja schon ganz ok gemacht bis dahin. Im Finale hat uns dann halt unser Gründungsmitglied, der Mars, an allen Ecken und Enden gefehlt, gerade mit seiner Schnelligkeit hätte er Löcher in die gegnerische Abwehr um den grätschenden Rebellen gerissen und …”
“Papperlapapp!”, gestand er sich selbst ein und bemühte noch nicht einmal mehr die vorab gestreute prophylaktische Verletzung als Ausrede: “Chapeau! MvJ ist MVP, wiewohl natürlich nur so gut wie die Mannschaft, die ihn dazu machte. Aber zwei Siege bei zwei Teilnahmen sind schon ein ziemliches Brett!” Er freue sich jedoch vor allem, so Kamke abschließend, dass auch in diesem Jahr wieder eine ganze Reihe erstmaliger Mitkicker am Start gewesen sei und setze darauf, dass diejenigen Debütanten, die nach dem ersten Spiel Forfait erklären mussten, ihre Vorbereitung für das kommende Jahr weiter optimierten.
Seine eigene Vorbereitung gelte indes primär dem #tkdingens: Es könne ja wohl nicht angehen, dass er am Ende der Tage feststellen müsse, mit viel zu vielen Leuten nur wenige Worte, wenn überhaupt, gewechselt zu haben. Nächstes Jahr werde das alles anders, versuchte er sich einzureden, und gluckste dabei hysterisch.