Ein Sonntag im November

Vor kurzem habe ich mir einen Novembersonntag gemalt. So gut ich eben malen kann. Weil das nicht sonderlich gut ist, erscheint es mir nicht sinnvoll, das Werk dem gemeinen Blogleser zuzumuten. Statt dessen will ich kurz verbal darstellen, wie ein solcher (wie) gemalter Novembersonntag aussehen könnte.

Er ist, wie es sich für einen anständigen Novembersonntag gehört, völlig verregnet. Die ganze Familie bleibt ewig im Bett (so ewig ewig halt sein kann bei hungrigen kleinen Monstern) und hängt anschließend bis weit in den Nachmittag hinein, wetterbedingt völlig ohne schlechtes Gewissen, faul in Nacht- oder Schlabberklamotten in der Wohnung herum. Das eine oder andere Buch wird (vor-)gelesen, ebenso die Zeitungen, der Klassiker “Mensch ärgere Dich nicht” kommt genauso zu seinem Recht wie die Holzeisenbahn zum Ihrigen, man tobt und tollt, isst zwischendurch etwas Nahrhaftes, Linsen mit Spätzle wären eine ganz gute Idee, baut vielleicht eine Höhle, vergisst den Mittagsschlaf nicht, schaut irgendwann noch kurz in einen alten Heimatschinken hinein – mit Toni Sailer als schwarzem Blitz, zum Beispiel – und zieht sich so gegen halb vier langsam an. Man fährt mit der Stadtbahn zum Neckarstadion, geht aber zunächst kurz zum Schlienz, weil es dort noch Wurst für Geld gibt und man ganz gut über Trainer, Manager und Vereinsführung schimpfen kann, und ist eine Dreiviertelstunde vor Anpfiff vor Ort, um sich einen Platz an der Regenkante zu suchen (ok, knapp dahinter wäre eventuell die besser Alternative). Anschließend sieht man sich das Aufwärmen an, zieht Rückschlüsse zur Aufstellung, und beteiligt sich an den Spekulationen zum Spielverlauf mit einem zurückhaltenden “Ehrlich gesagt wäre ich heute schon mit einem dreckigen Fünf zu Null zufrieden.” An einem gemalten Novembersonntag wird diese Erwartung dann ein wenig übertroffen, man freut sich, schüttelt ungläubig den Kopf, geht zufrieden nach Hause, strahlt die Familie an, die Familie strahlt zurück, man bringt wenigstens noch ein Kind ins Bett, schaut ein wenig West Wing, danach die einschlägigen Sportsendungen, und geht zu Bett.

Nach diesem jahreszeitlichen Exkurs noch ein paar Sätze zum gestrigen Spiel des VfB gegen Werder.

Als nach wenigen Minuten Maricas Einsatz gegen Frings abgepfiffen wurde, war zwar nicht jeder Stuttgarter Zuschauer zufrieden mit der Schiedsrichterentscheidung; Maricas Vehemenz ließ indes Aufschauen, und die Ersten fragten sich, um wen es sich bei dem Herrn mit der Nummer 9 tatsächlich handle. Mit zunehmender Spieldauer nahm die Zahl der Zweifler zu. Ging der prächtige Abschluss beim 1:0 gegen einen der stärksten Bundesligatorhüter, zumindest auf der Linie, noch als Ausrutscher durch, war das leichtfüßige Abhängen von Prödl vor Gentners Großchance schon ein deutlicheres Indiz und die Vorbereitung des 2:0 nach großartigem Zusammenspiel mit Timo Gebhart letztlich der Beweis, dass man es nicht mit “unserem” Marica zu tun haben konnte. Vor dem 3:0 schüttelte besagter Herr Mertesackers Mannen ab wie lästige Fliegen, das 4:0 legte er selbstverständlich auch vor, und beim 5:0 zeigte er dann, dass er sogar flanken kann – eine Fähigkeit, die beim VfB zum Alleinstellungsmerkmal reichen könnte, auch wenn Molinaro erstmals wieder vernünftige Bälle (oder zumindest einen, und zwar auf, natürlich, Marica) vor das Tor brachte. Bleibt zu hoffen, dass sich dieser Marica in den nächsten Wochen öfter sehen lässt.

Genau wie dieser Gebhart, übrigens, und dieser Boka, der ja schon am Donnerstag zu Besuch war. Diesen Niedermeier und diesen Delpierre kann man angesichts der Bremer Offensivleistung nicht seriös bewerten – wobei das, wenn man ehrlich ist, angesichts der Bremer Defensivleistung analog für die Stuttgarter Stürmer gelten müsste. Gentner zeigte, dass er in der Mitte besser aufgehoben ist, und wird sich dort mit Kuzmanovic streiten müssen, wer neben Träsch spielen darf. Der hatte zwar ungewöhnlich viele Fehlpässe in seinem Spiel, aber von 100 eroberten Bällen wird man auch mal fünf zum Gegner spielen dürfen. Bei Camoranesi ist diese Quote etwas schwächer, weswegen er auch nach dem zweiten völlig unnötigen und gegen einen anderen Gegner gefährlichen Fehlpass im Spielaufbau vom Kapitän kräftig in den Senkel gestellt wurde.

Was ich nicht vergessen möchte: das Lob an den Trainer. Der hatte vor dem Spiel bereits angekündigt, dass man die Schwächen der Bremer Defensive ausnutzen wolle, und seine Mannschaft hielt Wort. Selten habe ich einen VfB gesehen, der den Gegner zu Spielbeginn so konsequent früh unter Druck setzte (und dabei, auch das ist wahr, anfänglich hinten ein paar Chancen zuließ) und – so hoffe ich – ganz bewusst immer wieder Gebhart in die Dribblings gegen die nicht ganz so geschmeidigen Silvestre und Prödl schickte. Es war mir ein Fest, zuzusehen, wie die ganze Mannschaft sich in Bewegung setzte, um bei jedem Bremer Einwurf in der Nähe der eigenen Eckfahne die Räume zuzustellen, und wie sie praktisch in jedem Fall den Ball eroberte.

Was nach wie vor nicht klappt, ist die Spieleröffnung. Viel zu oft schlägt Sven Ulreich den Ball hoch und weit nach vorne. Ich weiß nicht, ob es an ihm liegt, an ängstlichen Mitspielern, die in Tornähe keinen Ball wollen, oder an den Vorgaben des Trainers, der dem zuletzt wackligen Molinaro auf der einen und dem jungen, in der Defensive überzeugenden Funk auf der anderen Seite wenig Gelegenheit geben will, leichte Fehler zu begehen. Doch letztlich sind diese langen Bälle vorhersehbare Ballverluste, egal ob sie von Ulreich oder in der nächsten Stufe von Delpierre kommen. So wie ein Elfmeter von Cacau ein vorhersehbarer Fehlschuss ist, aber das ist ein anderes Thema.

Natürlich sind die Vergleiche zum Sieg gegen Gladbach, der, wie wir heute wissen, nicht mehr als ein Strohfeuer war, unvermeidlich. Natürlich gilt es nun, die damaligen Fehler zu vermeiden, natürlich darf in Kaiserslautern das Engagement keinen Deut geringer sein als gegen Bremen, natürlich darf man nicht gleich wieder träumen. Und doch gibt es zumindest einen deutlichen Unterschied: gegen Bremen fielen die Tore aus dem Spiel heraus, gegen Gladbach traf man nach 5 Standardsituationen. Tore aus Standardsituationen sind nicht weniger wert, sie sind auch keine schlechteren Tore, sie sind vielmehr eine wichtige Variante, die beim VfB viel zu selten effektiv zum Einsatz kommt. Aber nach den bisherigen spielerischen Saisonleistungen hat der VfB gestern endlich einmal nicht nur schlaglichtartig gezeigt, dass er nach wie vor imstande ist, zielgerichtete und gleichzeitig sehenswerte Aktionen vorzutragen, die, wie man so schön sagt, nach Fußball aussehen. Ja, der Gegner war schlecht, gegen andere wird das nicht so einfach funktionieren. Aber immerhin haben sie gesehen, wie es funktionieren kann, haben gezeigt, dass sie spielen können. Das ist doch schon mal ein Anfang. Und eine Erkenntnis, auf der man aufbauen kann.

Am Ende meines vermeintlich wie gemalten Tages musste ich übrigens auf Druck des Familienrats noch Kfz-Versicherungen vergleichen. Naja.

Dafür habe ich begonnen, mir eine vorweihnachtliche Woche zu malen. Und einen irischen Frühlingstag.

Von Galoppern und Robben

Als die Bayern gegen Inter spielten, dachte ich an Acatenango.

Alle, die jetzt nicht wissen, wovon ich rede, sind vermutlich nach 1980 geboren oder haben erst spät zur Sportschau gefunden. Und diejenigen, die sich an Acatenango erinnern, dürften sich völlig zurecht fragen, weshalb ich beim Finale der Champions League an ihn dachte.

Ich sah also diesem Fußballspiel zu, das leider viel zu früh entschieden war und das mich irgendwann nur noch bedingt mitreißen konnte. Und wie ich da so zusah, nistete sich recht unvorhergesehen der Gedanke bei mir ein, dass auf Seiten der Bayern nach meiner Einschätzung (korrekter: nach meiner Einschätzung der Einschätzung durch die Sportjournalisten) mindestens die beiden Erstplatzierten und drei weitere Spieler aus den Top 10 der Wahl zum Fußballer des Jahres 2010 auf dem Platz standen. Nicht dass ich daraus einen Abgesang auf den deutschen Fußball abgeleitet hätte, nach dem Motto: “Da stehen 5 der 10 vermeintlich besten Bundesligaspieler auf dem Platz, und trotzdem sind sie nicht in der Lage, Gefahr zu erzeugen”, überhaupt nicht. War einfach nur so ein Gedanke.

Während ich also noch über den Nachfolger von Grafite sinnierte, tauchte aus heiterem Himmel ein neuer Begriff auf, der zwar eine gewisse formale Ähnlichkeit mit dem des Fußballers des Jahres aufweist, den man indes inhaltlich wohl nicht einmal 1985, 1997 oder 1998 guten Gewissens mit dem Sieger der kicker-Wahl in Verbindung bringen konnte. Eigentlich. Für mich hingegen ist der Weg vom Fußballer des Jahres zum Galopper des Jahres schon immer ein kurzer gewesen: Fußball war Sportschau war (auch) Addi Furler war Galopper des Jahres. War Acatenango (und, zugegeben, ein bisschen Orofino). Womit die Ausgangsfrage beantwortet wäre.

Im Übrigen sei die Wahl des Galoppers des Jahres, die zu meiner Überraschung noch immer durchgeführt wird, wenn auch mit deutlich geringerem medialen Auftrieb als zu Zeiten von Furler, Schwarze und Zimmer, die älteste Publikumswahl im deutschen Sport. Auch besteht sie bereits drei Jahre länger als die elitäre Wahl des fußballerischen Pendants, die dieses Jahr auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken kann.

Ich schweife ab. Die Frage der gedanklichen Verbindung zwischen dem Finale der Champions League und einem guatemaltekischen Vulkan wäre zwar geklärt; eigentlich wollte ich jedoch einen Schritt weiter gehen und auch noch ein paar Sätze zur Wahl zum Fußballer des Jahres verlieren, auch wenn vor ihrer Durchführung und vor allem Veröffentlichung noch eine Weltmeisterschaft steht. Gerade bei Weltmeisterschaften sollte man ja zwischenzeitlich vorsichtig geworden sein, nachdem die letzten beiden MVPs wohl schon vor den jeweiligen Finals gewählt wurden, dieses Ergebnis dort aber nicht uneingeschränkt bestätigen konnten.

Wie auch immer: ich habe mir also trotz möglicher weltmeisterschaftsbedingter Änderungen ein paar Gedanken zur Wahl des Fußballers des Jahres gemacht und in diesem Kontext die Ergebnisse der letzten Jahre angesehen, um festzustellen, dass seit Michael Ballack, der 2002 und 2003 (sowie 2005) gewann, niemand mehr ernsthaft Gefahr lief, den Titel zu verteidigen. Eine kurze Betrachtung der 10 Bestplatzierten der letzten 5 Jahre führt mich gar zu dem Schluss, dass ziemlich viele von Ihnen ziemlich sicher nicht erneut in den Top 10 landen werden:

2005
1. Michael Ballack (Bayern München) 516
2. Lukas Podolski (1. FC Köln) 103
3. Marcelinho (Hertha BSC Berlin) 99
4. Marek Mintal (1. FC Nürnberg) 55
5. Bastian Schweinsteiger (Bayern München) 39
6. Per Mertesacker (Hannover 96) 28
7. Roy Makaay (Bayern München) 25
8. Lincoln (Schalke 04) 21
9. Dietmar Hamann (FC Liverpool) 10
10. Sebastian Deisler (Bayern München) 8

2006
1. Miroslav Klose (Werder Bremen) 532
2. Jens Lehmann (FC Arsenal) 82
3. Philipp Lahm (Bayern München) 58
4. Oliver Kahn (Bayern München) 39
5. Michael Ballack (Bayern München) 17
6. Torsten Frings (Werder Bremen) 12
7. Per Mertesacker (Hannover 96) 11
8. Lukas Podolski (1. FC Köln) 9
9. Tim Borowski (Werder Bremen) 5
9. Bastian Schweinsteiger (Bayern München) 5
9. David Odonkor (Borussia Dortmund) 5

2007
1. Mario Gomez (VfB Stuttgart)  196
2. Diego (Werder Bremen)  175
3. Bernd Schneider (Bayer Leverkusen)  156
4. Torsten Frings (Werder Bremen)  47
4. Theofanis Gekas (VfL Bochum)  47
6. Kevin Kuranyi (Schalke 04)  20
7. Pavel Pardo (VfB Stuttgart)  18
8. Timo Hildebrand (VfB Stuttgart)  17
8. Jens Lehmann (Arsenal FC)  17
8. Rafael van der Vaart (Hamburger SV)  17

2008
1. Franck Ribery (Bayern München) 224
2. Michael Ballack (FC Chelsea) 115
3. Luca Toni (Bayern München) 108
4. Philipp Lahm (Bayern München) 69
5. Oliver Kahn (Bayern München) 60
6. Diego (Werder Bremen) 33
7. Mario Gomez (VfB Stuttgart) 32
8. René Adler (Bayer Leverkusen) 31
9. Lukas Podolski (Bayern München) 18
10. Bastian Schweinsteiger (Bayern München) 6

2009
1. Grafite (VfL Wolfsburg) 331
2. Mario Gomez (VfB Stuttgart) 171
3. Edin Dzeko (VfL Wolfsburg) 169
4. Diego (Werder Bremen) 103
5. Franck Ribery (Bayern München) 65
6. Zvjezdan Misimovic (VfL Wolfsburg) 50
7. Philipp Lahm (Bayern München) 32
8. Vedad Ibisevic (1899 Hoffenheim) 20
9. Robert Enke (Hannover 96) 16
10. Mesut Özil (Werder Bremen) 10


Und hier mein völlig verfrühter Tipp:

Fußballer des Jahres 2010:

1. Arjen Robben

2. Bastian “Herr Schweinsteiger” Schweinsteiger

3. Edin Dzeko

4. Kevin Kuranyi

5. Sami Hyypiä

6. Ivica Olic

7. Thomas Müller

8. Toni Kroos

9. Torsten Frings

10. Claudio Pizarro

10. Cacau

10. Nuri Sahin

10. Philipp Lahm

Und Ihr so?

Deutsches Defensiv-Drama

Oh je. Hitzlsperger auf der Bank, Rolfes verletzt, Frings ausgebootet offen, respektvoll und positiv behaftet über seine Nichtnominierung informiert. Und jetzt, wer spielt in Südafrika zentral defensiv?

Nichts leichter als das: Fragen wir die Statistik! Was muss ein Sechser können? Bälle abfangen, Zweikämpfe gewinnen und Pässe spielen. Die Sache mit den abgefangenen Bällen ist nicht so leicht zu erfassen, Zweikampfbilanzen und Pässe zum Mitspieler indes schon.

Also, flugs mal alle für die deutsche Nationalmannschaft spielberechtigten Sechser im weitesten Sinne identifiziert, die am vergangenen Spieltag (es kommt ja auch darauf an, wer zum richtigen Zeitpunkt die Gunst der Stunde zu nutzen imstande ist) zum Einsatz kamen, und ihre Werte gesammelt. Da Zweikämpfe und Pässe über den Daumen gleich wichtig sind, hab ich mal eben noch einen Mittelwert gebildet, und schon wissen wir, wer mit zur WM sollte:

Besonders beeindruckend ist dabei die Tatsache, dass Preuß und Schwegler nur 40 bzw. 50 Minuten gespielt haben, d.h. in Summe genau ein Spiel bestritten und dabei auf einen gemeinsamen Mittelwert von sagenhaften 167 % kamen. Demzufolge ist ihre Nominierung wohl nur noch Formsache.

Nähere Informationen zum wissenschaftlichen Hintergrund gibt’s bei Trainer Baade.

Nachtrag:
Wie ich erst jetzt mitbekommen habe, ist die reißerische Überschrift für die Frankfurter Eintracht und insbesondere für Christoph Preuß leider viel zu nahe an der Wahrheit. Sowohl Schwegler (bereits am Samstag) als auch der gerade erst zurückgekehrte Preuß haben sich verletzt.

Nachtrag 2:
So ist das halt bei den hingerotzten Beiträgen – selbstverständlich ist Pirmin Schwegler Schweizer (puh, immerhin hab ich’s noch selbst gemerkt).

Entscheidungsfindung

Es ist nicht immer leicht, eine Entscheidung zu treffen. Deshalb ist man in aller Regel gut beraten, die Vor- und Nachteile gut abzuwägen, ohne das Bauchgefühl außer Acht zu lassen. Man kann Personen seines Vertrauens in die Entscheidungsfindung einbeziehen, im Einzelfall vielleicht auch, der Objektivität wegen, wildfremde Menschen, und deren Gedanken dann berücksichtigen oder auch nicht. Irgendwann jedoch, möglichst innerhalb der vorgegebenen Frist, sofern es denn eine gibt, sollte man zu einem Schluss zu kommen, den man dann auch als bindend betrachtet und nicht wegen jeder Kleinigkeit wieder hinterfragt. Ob es anschließend ratsam ist, die verworfenen Alternativen öffentlich auszubreiten, muss jede(r) für sich entscheiden. Ich persönlich halte in aller Regel nicht viel davon. Vor allem dann nicht, wenn dieses Bekenntnis die Frage aufwerfen könnte, wen zum Teufel das interessiert, oder gar: warum hat er’s nicht einfach getan?

Frau Pechstein sowie die Herren Hamilton, Bierhoff, Rutten, Löw, Koch, Klopp, Donadoni, FringsFischer und ganz aktuell auch Herr Henry sehen das anders.

 

"Der Kapitän geht voran"

…titelte die VfB-Stadionzeitschrift zum heutigen Spiel gegen Werder Bremen, und manch einer mag sich gefragt haben, warum man vergaß, ihm die Richtung zu nennen. Ok, vielleicht ist es ungerecht, ihn als denjenigen auszumachen, der auf dem Weg in tiefes Mittelmaß vorangeht – aber allzu viel Bremswirkung geht von ihm auch nicht aus, um es ganz vorsichtig zu formulieren. Hitzlsperger versteckte sich, so gut er konnte, war in der Offensive nicht zu sehen, schlug schaurige Standards und verschleppte das Spiel, wenn die Zuschauer auf schnelle Gegenangriffe hofften. Negativ aufgefallen ist er mit dieser Leistung allerdings nicht. Vielmehr fügte er sich bestens in eine Mannschaft ein, die ganz offensichtlich keinerlei Idee hatte, wie sie dem Spiel eine andere Wendung geben könnte.

Hatte man nach mehreren Spielen wie dem gegen Köln noch festgestellt, dass der VfB offensichtlich nicht in der Lage ist, eine sehr tief stehende Verteidigung unter Druck zu setzen bzw. sie mit spielerischen Mitteln auszuhebeln, so galt es heute zu konstatieren, dass auch ein Gegner, der sich nicht hinten einigelt, wenig Sorge zu haben braucht ob der Stuttgarter Offensivbemühungen. Wobei nicht viele Zuschauer bereit gewesen wären, überhaupt von “Bemühungen” zu reden.

Werder war zu wirklich jedem Zeitpunkt Herr im fremden Haus. Über die Qualität ihrer Verteidigung kann man mangels Beschäftigung nur sehr wenig sagen. Wiese bestand seine einzige ernsthafte Prüfung tadellos, Mertesacker und Naldo ließen Schieber und vor allem Pogrebnyak lächelnd an der breiten Brust abprallen, und wen man gegen den VfB auf den defensiven Außenpositionen aufbietet, ist derzeit nun wirklich völlig egal. Im Mittelfeld reichte der solide Exnationalspieler Frings aus, um die Stuttgarter in Schach zu halten, so dass alle anderen nach Belieben ihre Freiräume in der Offensive suchen konnten. Marin tat das sehr erfolgreich und stellte recht bald fest, dass ihm weder auf der einen noch auf der anderen Seite viel Gegenwehr drohte; letztlich entschied er sich gegen Boka und trieb seine Späßchen statt dessen mit dem überforderten Celozzi, der sehr bald auch in der Vorwärtsbewegung nicht mehr in der Lage war, das richtige zu tun (sprich: den Ball einem Mitspieler zu geben), und von Babbel in der 43.(!) Minute erlöst wurde.

Über die Gegentore zu diskutieren ist müßig – das erste entsprang einer dieser Situationen, in denen Marin auf Celozzi traf, und dem zweiten ging ein schnell ausgeführter Freistoß voraus, vor denen jeder Kreisligatrainer wöchentlich warnt (womit ich nicht andeuten will, dass das VfB-Trainerteam nicht gewarnt hätte). Lehmann verhinderte verschiedentlich einen höheren Rückstand, und glücklicherweise zeigten sich auch die Innenverteidiger weitgehend robust gegenüber Stürmern und Krise. Khedira signalisierte von Zeit zu Zeit, vor allem zu Beginn des Spiels und Mitte der zweiten Hälfte, als er vermehrt vor dem Bremer Tor auftauchte, dass man das Spiel nicht kampflos hergeben wollte und im Grunde auch Fußball spielen kann, aber mehr Positives kann ich beim besten Willen nicht zusammentragen. Was bleibt: die Mannschaft kopflos, die Auswechslungen mutlos, der Trainer ratlos, die Fans sprachlos.

Falsch, ein Wort fiel dann doch mit zunehmender Häufigkeit: Abstiegskampf. Und wäre Serdar Tasci in der Nähe gewesen, hätte er sich sicher sein können, viel Spott und Häme zu ernten für seine kürzlich ausgegebenes Ziel, Rang drei zu erreichen. Auf der Gegengerade war ein erstes “Babbel raus!”-Plakat zu sehen, und ich habe wenig Zweifel, dass eben diese Diskussion deutlich an Fahrt aufnehmen wird. Zumal sein scheinbar anscheinend stoisches Ertragen der jüngsten Leistungen auf der Trainerbank, verbunden mit späten und zuletzt auch nicht mehr sehr effektiven Auswechslungen, nicht unbedingt das Gefühl vermittelt, dass die Strategie für eine Trendumkehr bereits weitgehend stehen könnte. Man darf gespannt sein, wie Horst Heldt das sieht. Und muss sich vielleicht auch mit der Frage befassen, ob es wirklich am Trainer liegt, oder ob möglicherweise auch der Kader im Jahr nach Mario Gomez einfach nicht gut genug zusammengesetzt wurde, um Träume von der Champions League oder auch nur dem Uefa-Cup (ja, ja) zu rechtfertigen. Kein Urteil, nur ein Denkansatz.

Den Bremer Fans will ich im Übrigen wohlwollend unterstellen, dass sie es einfach nicht kapiert hatten. Dass sie nicht verstanden hatten, dass die Schweigeminute für Rolf Rüssmann nicht mit der Würdigung durch den Stadionsprecher endet, sondern damit erst beginnt. Schweigeminute hat tatsächlich etwas mit schweigen zu tun, Ihr Idioten!

[Nachtrag: Um es noch einmal klar zu stellen: ich glaube wirklich nicht, dass die Bremer Fans bösen Willens waren, als sie die Schweigeminute nicht beachteten. Meines Erachtens wähnten sie sie einfach beendet, bevor sie wirklich begonnen hatte; dafür spricht zumindest ihr weitgehendes Schweigen nach dem ihnen zugedachten Pfeifkonzert.]