Instinktiv nachgefragt

“Traoré hat das Spiel nicht verstanden. Wie soll ich meiner E-Jugend erzählen, dass egal ist, wer das Tor schießt, wenn die dann dem zuschauen?”

Diese SMS erreichte mich irgendwann im Lauf der ersten Halbzeit des VfB-Spiels in Hamburg, Auslöser dürfte Traorés Abschluss aus spitzem Winkel gewesen sein, als in der Mitte zwei Mitspieler auf den Querpass warteten, vielleicht auch noch die oder andere Szene mehr.

Ich war ein wenig hin- und hergerissen. Einerseits hatte der Absender, dessen Fußballsachverstand ich sehr schätze, schlicht und ergreifend recht, was die Bewertung mindestens jener einen Szene anbelangt, vermutlich auch darüber hinaus. Andererseits war Traoré gleichwohl eine positive Erscheinung im VfB-Spiel, ein ständiger Unruheherd, der sich auch vom einen oder anderen Ballverlust nicht beirren ließ und weiterwuselte.

Ehe ich mich’s versah, hatte ich auch schon geantwortet:

“Freundlich ausgedrückt: Instinktfußballer.
Im Guten wie im Schlechten.”

Bleibt die Frage, was ich gemeint hatte. Vermutlich war es der Versuch, die Wendung “hat das Spiel nicht verstanden” durch die Betonung anderer, möglicherweise im Gegensatz dazu stehender Qualitäten gleichzeitig zu bestätigen und zu konterkarieren.

Wobei ich mir gar nicht sicher bin, was “man” gemeinhin mit einem Instinktfußballer verbindet. Ist es grundsätzlich positiv gemeint? Gilt Thomas Müller als Instinktfußballer, weil er sich keinen Kopf macht? Ist Lukas Podolski einer, weil er sich mancher Lesart zufolge gar keinen Kopf machen könnte? Ist ein Instinktfußballer jemand, der nicht dafür geschaffen ist, strategisch zu agieren? Oder handeln vielmehr auch, vielleicht sogar gerade, die großen Strategen des Spiels in hohem Maße instinktiv? Sind Ronaldo oder Rooney typische Instinktfußballer, Pirlo und Micoud indes gerade nicht?

Zu welcher Kategorie zählt, so man diese Kategorisierung für annähernd passend hält, der große Stratege Zidane, der instinktiv so vieles richtig machte? Ist es eine typische arrogant-akademische Herangehensweise, Spieler wie Rooney, Podolski oder Fritz Walter (junior) ohne allzu viel Federlesens in die Instinktschublade zu stecken? Kann es sein, dass William Kvist die Bälle vielleicht doch instinktiv meist nach hinten spielt, völlig unabhängig davon, dass er nicht auf den Kopf gefallen und strategisch begabt scheint?

Trifft es zu, dass “Instinktfußballer”, gemeinsam mit dem “Straßenfußballer” das höchste Lob ist, das wir zu vergeben haben? Oder ist “hat das Spiel verstanden” noch etwas höher anzusiedeln? Hat schon mal jemand “der hat das Spiel instinktiv verstanden” gesagt? Trügt der Instinkt eigentlich eher als strategische Überlegungen?

Das letzte Wort hatte am Sonntag mein SMS-Partner, der nach Traorés Großchance kurz vor Schluss lakonisch feststellte:

“Ein Instinktfußballer macht den cool und abgezockt.”

Vermutlich hatte er recht. Wobei man dann wieder die Frage stellen könnte, ob wir da nicht den Instinkt des gemeinen Instinktfußballers mit dem spezielleren Torinstinkt in einen Topf schmeißen. Und falls dem so ist, ob das beiden Instinkten gerecht wird. Beziehungsweise den beiden Ausprägungen des einen.

Egal. Fürs Erste. Ob Raphael Holzhauser ein Instinktfußballer ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Wie es um das strategische Geschick auf dem Platz bestellt ist, kann ich auch noch nicht seriös sagen, neige aber zu einem “gut”. Ohne erneut die Holzhauser-Cam verwendet zu haben heranzuziehen, möchte ich doch kurz auf einen Punkt eingehen, der mir aufgefallen ist:

Ich hatte den Eindruck, dass er mehr kurze, einfache, unspektakuläre Bälle spielte als in seinen bisherigen Einsätzen. Wie man es von klassischen Ballbesitzmannschaften kennt. Und von Spielern, die sich ihrer Sache sicher sind, die sich nicht unter dem Druck sehen, einen tödlichen Pass nach dem anderen zu spielen, die wissen, dass sie den Ball gleich wieder bekommen, weil die anderen wissen, dass derjenige meist etwas Vernünftiges damit anstellt. Im Idealfall kann der betreffende Spieler sogar bereits erahnen, dass er auch mal den einen oder anderen Fehler machen darf. (Man wäre geneigt, von einem “Privileg der Jugend” zu sprechen, wüsste man nicht, dass es bisher in der Tendenz eher älteren Herren eingeräumt worden war.)

Nun zögere ich sehr, dem Trainer mit Blick auf Holzhauser ein Lob auszusprechen, zumal der Nachweis, dass sich der junge Mann tatsächlich einen gewissen Kredit erarbeitet hat, erst noch zu erbringen ist – wiewohl ich es vorzöge, wenn der Kreditrahmen bis auf Weiteres nicht in Anspruch genommen zu werden bräuchte. Ausdrücklich loben möchte ich indes die Art und Weise, wie der VfB in Hamburg aufgetreten ist. Ich glaube nicht, dass Thorsten Fink und seine Mannen damit gerechnet hatten, von einem derart selbstbewusst auftretenden Gegner in dieser Form attackiert zu werden.

Der werte Herr @nedfuller, mit dem (und nicht nur mit ihm, sondern darüber hinaus mit @direktvrwandelt und @voegi79) ich mich im Sportradio 360 ein bisschen über das vergangene Wochenende unterhalten durfte, zeigte sich ebenfalls überrascht und beinahe beeindruckt – was auch damit zu tun haben mag, dass seine Erwartungen an Bruno Labbadia aus dessen Hamburger Historie heraus überschaubar hoch sind.

Gut gemacht, Herr Labbadia! Und wenn ich schon dabei bin: starkes Spiel, Christian Gentner! Klasse Leistung, William Kvist!

(Es gäbe noch einige andere zu loben, ich will jetzt gar keine weiteren Beispiele nennen – heute sollen mal diejenigen Erwähnung finden, die ich ansonsten meist (Labbadia, Gentner) oder zumindest in jüngerer Zeit (Kvist) instinktiv sehr bewusst eher zurückhaltend bewerte.

Mal sehen, ob sie am Wochenende auch dem Meistertrainer gewachsen sind. Dem instinktsicheren Strategen.

 

Vorrundenlieblinge, kursorisch

Joe Harts Trikot
Als ich mich frug, wen oder was der Designer des Trikots, das der englische Torhüter im Auftaktspiel gegen Frankreich trug, im Kopf gehabt haben mag, dachte ich kurz drei Optionen an:

  • Tim Wiese
  • Tetris
  • Lucy in the Sky with Diamonds

Weiter bin ich noch nicht.

Leider ließ Hart das Trikot im zweiten und dritten Gruppenspiel im Schrank, um in dezentem Rot aufzulaufen. Die Gründe sind mir nicht bekannt, Ideen hätte ich.

Mehmet Scholl
Meine Sichtweise seiner Dekubitusvorlesung ist hinlänglich kommuniziert, was nichts daran ändert, dass es in der Regel großen Spaß macht, ihm zuzuhören. Und zuzusehen, wie er Reinhold Beckmann mit einem knappen Satz deutlich macht, was er mitunter von dessen superlativischen Thesen hält. Nicht immer inhaltlich, so glaube ich, sondern einfach der Größe des Fasses wegen, das Beckmann aufmachen will. So z.B. als Beckmann Wayne Rooneys Sprungkraft mit markigen Worten kritisieren wollte und Scholl nonchalant feststellte, dass (sinngemäß) “wir beide, Reinhold, im Rückwärtslaufen auch nicht so wahnsinnig hoch springen würden.”

Die Uefa
80.000 Euro Strafe für den kroatischen Verband wegen rassistischer Vergehen. 100.000 Euro Strafe für Nicklas Bendtner wegen Eingreifens in die Werbeeinnahmenhoheit der Uefa ungebührlichen Verhaltens. So kann man seinen Prioritäten auch zur Transparenz verhelfen.

Philippe Mexès
Es ist bestimmt völlig ungerecht, und wahrscheinlich hängt es in allererster Linie mit einer gewissen Ähnlichkeit mit einem Bekannten aus Jugendtagen zusammen. Zweifellos ist es völlig unsachlich, und ganz gewiss auch ungehörig. Unsportlich sowieso. Philippe Mexes wirkt auf mich immer wie ein von Alkohol und anderen Drogen über viele Jahre hinweg aufgedunsener junger Mann im Körper eines wesentlich älteren Mannes. Er ist mir noch nicht einmal unsympathisch im engeren Sinn, er wirkt einfach nur furchtbar … ungesund. Wie hieß nochmal der Film mit Mickey Rourke über einen alternden Sportler?

Usedom
Nicht der ideale Ort für eine EM in Polen und der Ukraine, ganz gewiss nicht. Und doch: An Usedom liegt es nicht, liebes ZDF.

Wasserwalzen
Man hört von einem Unwetter, einer Spielunterbrechung, bei einem großan internationalen Fußballturnier, und denkt an, genau, Walzen. Jene Walzen, mit denen die Stadionarbeiter 1974 versuchten, den Platz im Frankfurter Waldstadion bespielbar zu machen (Dürfte ein EM- oder WM-Stadion heute noch Waldstadion heißen oder müsste man den Wald überkleben? Oder gar abmontieren?). In Donezk funktionierte das in beeindruckender und völlig anderer Weise. Wird an meiner nostalgischen Ader liegen, dass ich zwischendurch von Walzen träumte.

Waldi
Nach Fußballspielen laufe ich mitunter Gefahr, vor dem Fernsehr zu versumpfen, in der nicht selten irrigen Hoffnung, doch noch eine fundierte Analyse zu sehen oder zu hören. Waldis Club hilft mir, dieses Problems Herr zu werden. Und wenn ich doch kurz dort hängen bleibe, stelle ich fest, dass Herr Knop als Herr Knop bei weitem nicht derjenige ist, der am wenigsten vom Fußball versteht.

Blonder Engel
Nein, ich will nicht schon wieder der EM 80 gedenken, als dem blonden Engel (m) noch nicht vom blonden Engel (w) der Weg gewiesen wurde (zumindest noch nicht so offensichtlich, so genau weiß ich das nicht). Ich will überhaupt nicht gedenken, streng genommen, sondern nur danken. Herrn Zumblondenengel, @freval, der in seinem wunderbaren Blog die EM so herrlich weit weg vom Punkt auf den Punkt kommentiert. Und der die Kippe im französischen Mundwinkel thematisiert, ohne die Begriffe Gauloises, Gitanes oder Gainsbourg zu verwenden. Auch dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung. Mir indes nicht, wie man sieht.

Damals, als die Bayern noch in Aachen gewannen

Drüben bei El Fútbol [Link entfernt, Blog ist offline]  hat Sidan seine Leser dazu aufgerufen, ihre jeweiligen “Lieblingsspieler” vorzustellen – sei es im eigenen Blog, sei es direkt bei ihm. Er selbst ging sogleich mit Georghe Hagi in Vorleistung. Mir gefällt die Idee, und mir gefällt vor allem der Gedanke, so etwas blogübergreifend anzugehen*.  Deshalb mache ich gerne mit, auch wenn ich eigentlich nicht den einen Lieblingsspieler benennen kann.

Mit dem Lieblingsspieler ist es ja ein wenig anders als mit dem Lieblingsverein. Letzterer kann sich zwar auch mal ändern, aber insgesamt geschieht das doch eher selten. Bei Spielern verschiebt man die Präferenzen nach meiner Einschätzung bereitwilliger, schneller und häufiger – was nicht zuletzt mit gekränkten Eitelkeiten zu tun haben dürfte, wenn wieder mal ein verwöhnter Söldnermillionär in jungen Jahren zum falschen Verein gewechselt ist. Oder so. Wie auch immer: einen all time favourite hab ich nicht.

Was es natürlich gab, waren Spieler, deren Namen Identität und Spielkunst man auf dem Bolzplatz mit Vorliebe annahm – bei mir war das lange Zeit Falcão, später gerne mal, warum auch immer, Michailitschenko (falls @saumselig dies liest, haut er mir vermutlich die Schreibweise um die Ohren). Natürlich sind Maradona und Schuster zu nennen. Freistöße hätte ich gerne geschossen wie Allgöwer, war verzaubert von Sigurvinsson, wollte Hansi Müllers linken Fuß, verwandelte mich im Tor zu Ronnie Hellström, bewunderte Butragueño, huldigte 1984 Scifo und auch Platini, obwohl ich Giresse eigentlich lieber mochte, und war zeit seiner Karriere ein großer Fan von Mehmet Scholl. Savićević und Stojković ließen mich genauso anders schwärmen wie als Stoichkov und Romario; Rooney und, ja, Mario Gómez sind jeder für sich noch einmal ganz anders. Deschamps, Desailly und Rijkaard waren eher beeindruckend als begeisternd, bei Waddle und Gascoigne war’s anders herum, und irgendwann kam Zidane und stand über allen anderen. Zeit ist übrigens eine Illusion, Chronologie erst recht.

Mein allererster Lieblingsspieler aber, um den es hier gehen soll, ergab sich aus einer Mischung aus Trotz und Zufall. Im letzten deutschen Gruppenspiel bei der WM 1978, gegen Tunesien, feuerte ich als sechsjähriger Steppke nach einem zugegebenermaßen nicht sonderlich gefährlichen Schüsschen den jungen Mann mit den roten Bäckchen und den blonden Löckchen an, dessen Name mir schon im Lauf des in jener Saison erstmals ein wenig verfolgten Bundesligageschehens zu schaffen gemacht und der, das wusste ich, zuvor gegen Mexiko zweimal getroffen hatte. Ein aus damaliger Sicht älterer Zuschauer zeigte sich angesichts des Grottenkicks von meinem jugendlichen Eifer unbeeindruckt und antwortete nüchtern: “Ach, Bub, der Rummenigge ist doch ein Blindgänger.”

Das hatte gesessen. Pah! Meine jugendliche Leidenschaft, mein Glaube an den sicherlich auch diesmal bevorstehenden Sieg – schließlich hatte man Mexiko mit 6:0 aus dem Stadion gejagt – wurde von jenem Kritiker, vermutlich bereits desillusioniert vom eher mäßigen Spiel, so lapidar beiseite gewischt. Fortan galt es also für uns beide, Herrn Rummenigge und mich (auch wenn Herr Rummenigge sich dieser Aufgabe gar nicht so recht bewusste sein dürfte), diesem Bruddler das Gegenteil zu beweisen. Rummenigge oblag es, anständig zu spielen, mein Part bestand darin, ihn zu bewundern und bei Bedarf zu verteidigen. Was in seiner aktiven Karriere keine allzugroße Herausforderung darstellte. Seine Torausbeute bei den Bayern war überragend, 1980 und 1981 war er mit 26 bzw. 29 Treffern Torschützenkönig, in beiden Jahren wurde er zu Europas Fußballer des Jahres gewählt; in der Nationalelf war seine Quote mit 45 Treffern in 95 Länderspielen auch nicht ganz schlecht. Meine Begeisterung war übrigens lange Zeit derart prägend, dass ich die genannten Zahlen, und auch einige mehr, darunter zu meinem großen Erstaunen sein Geburtsdatum, noch heute kenne.

Er war der Grund dafür, dass ich mir 1984 oder 85 einen Geldbeutel im Inter-Design schenken ließ, obwohl der Verein nach dem zuvor nur bedingt geglückten Intermezzo von Hansi Müller eigentlich keine allzu guten Karten bei mir hatte, und der Verlust der Picture Disc des, äh, Superhits von Alan & Denise im Rahmen einer Party anno 1989 schmerzt noch heute.

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=nWHL0HsusvU]

(deutsche Fassung – schickes Plattencover)

Aber zurück zu Sportlichem. Oder auch nicht, da der Schiedsrichter bei einem seiner zahlreichen Tore des Monats im Juli 1981 – die Bayern gewannen damals in Aachen mit 5:1, wenn auch nicht gegen die Alemannia  – eine Unsportlichkeit erkannt hatte. Was zur Folge hatte, dass derlei Tore, obwohl dort seit langem gang und gäbe, fortan auf deutschen Bolzplätzen zu intensiven Diskussionen führten, ob der Treffer denn nun zähle oder nicht.

Unumstritten waren indes die Tore, die all diejenigen, die die deutsche Nationalmannschaft in den 80ern begleiteten, noch deutlich vor Augen haben dürften: der technisch feine und gleichzeitig entschlossene Anschlustreffer in der Nacht von Sevilla, das 1:2 gegen Argentinien, der Siegtreffer gegen die CSSR zum Auftakt der EM 1980, der sehenswerte Seitfallzieher gegen Finnland, damals, als es noch Kleine gab, und viele mehr.

Gerne war mal etwas Akrobatik dabei, oft ein Dribbling und ein schneller Antritt, bei den Freistößen stufte ihn Max Merkel in den frühen 80er Jahren in der Bundesliga nur auf Platz 2 hinter Michael Kutzop ein, der seinerseits später nicht bei jedem Elfmeter das nötige Glück haben sollte. Wenn ich den Fußballspieler Rummenigge mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich wohl “dynamisch” wählen, gefolgt von “zielgerichtet”. Was meines Erachtens besonders gut zum Ausdruck kommt, wenn man sich seinen Ausgleich im Mailänder Derby 1985 ansieht:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=XIu3jUtPZBc&start=354”]

“Al vantaggio rossonero risponde a modo suo il panzer: Kalle Rummenigge” – wozu seine auf mich stets feminin wirkende Jubelfaust allerdings nicht so recht passen will. Egal.

Auf dem Platz war er ein ganz Großer.

* Irgendwo liegen ja auch hier im Blog noch ein oder zwei vergleichbare, leider reichlich verkümmerte Ansätze für derlei Projekte herum.

Mein etwas anderes Zitterspiel. Und was danach kam.

Eigentlich war es eine Konstellation wie gemalt. Der Tag des letzten Gruppenspiels der deutschen Mannschaft gegen Ghana würde mein erster echter freier Tag sein, d.h. ab diesem Spiel würde ich die Weltmeisterschaft in vollen Zügen genießen können. Dass besagter Mittwoch dann doch noch nicht ganz frei war, kam letztlich nicht ganz unerwartet und ließ sich insofern verschmerzen, als der Griffel rechtzeitig vor dem Anpfiff fiel.

Die ersten 45 Minuten des Spiels verbrachte ich in einer Kneipe meines Vertrauens. Neben mir saß ein junger Mann mit einem traditionellen afrikanischen Blasinstrument, von dem ich gedacht hatte, es klinge wie eine Biene – tatsächlich hörte es sich an wie eine Mischung aus einem Rind und einer Elefantenkuh. An viel mehr kann ich mich aus der ersten Hälfte nicht erinnern, da mein Hauptaugenmerk auf meinem körperlichen Wohlbefinden lag: Schüttelfrost und generelles Unwohlsein trieben mich zur Pause heim. Die zweite Halbzeit verfolgte ich so halbwegs vom Sofa aus und konnte im Nachhinein unzweifelhaft feststellen, dass wohl kaum jemand so sehr um diesen Sieg gezittert hatte wie ich.

Tags darauf hing ich noch ziemlich in den Seilen, raffte mich aber zu zwei halben Spielen auf, für die sich das Aufstehen lohnte: die zweite Halbzeit des slowakischen Sieges gegen den baldigen Ex-Weltmeister und die erste, vielleicht noch ein bisschen mehr, des japanischen Freistoßfestivals, über das ich tags darauf sinngemäß lesen durfte (via dpa, wenn ich mich recht entsinne), dass der dänische Torwart nicht nur bei den beiden so erzielten Toren machtlos gewesen sei, sondern auch noch einen weiteren präzisen Freistoß von Endo an den Pfosten habe lenken können. Es hakt nicht nur bei der Fernsehberichterstattung.

Am Tag nach dem slowakischen Coup war es möglicherweise nicht die beste aller Ideen, mein Auto einem italienischen Dienstleister anzuvertrauen. Auch wenn es vermutlich nur meiner fiebrigen Phantasie geschuldet war, dass ich zu den Worten “Sie können den Wagen um 16.30 Uhr wieder abholen” nicht nur ein sardonisches Lachen zu erkennen glaubte, sondern auch die Begleitworte “Wenn wir schon draußen sind, bestelle ich Euch wenigstens alle so her, dass Ihr die guten Spiele verpasst!” auf seiner Stirn lesen konnte.

Tatsächlich war dieses Ansinnen von genauso wenig Erfolg gekrönt wie die fußballerischen Bemühungen seiner Landsleute: zwar verpasste ich in der Tat Brasilien-Portugal, das auf dem Papier am höchsten einzuschätzende Vorrundenspiel; allem Anschein nach war es indes alles andere als ein gutes Spiel. Der bleibendste Eindruck dieses Spieltags war vielmehr der, dass selbst diejenigen Spieler, die wirklich uralt aussehen, immer noch mindestens 5 Jahre jünger sind als ich selbst, im Fall von Stéphane Grichting sind es noch ein paar mehr.

Überhaupt sahen die Schweizer, inklusive Trainer, verdammt alt aus bei ihren einfallslosen Bemühungen gegen Honduras, denen man am Ende gar ein Tor gewünscht hätte, wenn nicht dieses Damoklesschwert über uns allen schweben würde: müssen wir uns die Frage, die uns anlässlich des Champions League Finales beschäftigte, in abgewandelter Form erneut stellen? Müssen wir nicht nur die deutschen Europapokalteilnehmer wegen des vierten Startplatzes unterstützen, sondern auch die europäischen Nationalmannschaften, um den 13. Startplatz behalten zu dürfen? Bei den Schweizern fiele mir das grundsätzlich ja noch sehr leicht, aber was, wenn Italien noch im Wettbewerb gewesen wäre? Hätte ich Quagliarella anfeuern, de Rossi zum Foulspiel animieren, Iaquinta bejubeln und Herrn Lippi huldigen müssen? Puh. Oder ist vielleicht doch die junge deutsche Mannschaft auf Jahre hinaus so stark, dass die Qualifikation für künftige Weltmeisterschaften ein Selbstläufer wird, unabhängig von der Zahl der europäischen Startplätze? Mal den Kaiser fragen.

Den folgenden Tag konnte ich im besten Fall rudimentär verfolgen, stellte aber in akustischer Hinsicht fest, dass die ghanaische Community in Stuttgart offensichtlich deutlich größer ist als gedacht. Ansonsten befasste ich mich mit den Vorbereitungen für eine längere Autofahrt, die das deutsche Achtelfinale zu gefährden drohte. Und tatsächlich bekam ich die ersten zwei Treffer nur im Radio mit, saß aber rechtzeitig zu den beiden englischen Toren vor dem Fernseher, befürchtete kurz, dass mein Tipp (England Weltmeister, Rooney Torschützenkönig) doch noch nicht ganz ausgeschlossen sei, und war im weiteren Verlauf ein bisschen froh, die zu erwartenden Tweetscharmützel nicht verfolgen zu können. Mein Mann des Spiels: Bastian Schweinsteiger.

Mein Mann des Abends hieß dann Roberto Rosetti, der mir trotz eher zurückhaltend ausgeprägter Sympathien sehr leid tat. Zweifellos hatte er sich nach dem Ausscheiden seiner Landsleute Hoffnungen gemacht, in diesem Turnier weit zu kommen, und vermutlich nicht zu Unrecht. Dann machte er nicht nur mit seinem Team einen fatalen Fehler, sondern wurde auch noch vor die Wahl gestellt, entweder im Sinne der Fairness und des Fußballsports zu handeln, d.h. das Tor auf Basis nicht zugelassener Beweismittel abzuerkennen, oder aber im Geiste von Herrn Blatter zu agieren. So also muss sich Atlas gefühlt haben, als er den Uranos zu stemmen hatte, und ich kann Herrn Rosetti nicht verdenken, dass er sich für den regelkonformen Weg entschieden hat. Hätte er anders entschieden und vielleicht gar Mexiko gewonnen, wäre ein Wiederholungsspiel wohl unumgänglich gewesen, was den Zeitplan durcheinander gebracht, die Sponsoren verärgert und die Fernsehsender erbost hätte. Ganz zu schweigen von Sepp Blatter.

Die Partie zwischen den Niederlanden und der Slowakei konnte ich der Familie gegenüber nicht zu einem solchen Kracher aufbauschen, dass sie beim Tag am Meer auf mich zu verzichten bereit gewesen wäre. War ok, Robbens Tor hatte ich im Verlauf der Saison bereits oft genug gesehen, und ob van Persie oder Sneijder ausgewechselt wird, ist mir recht egal. Abends verfolgte ich dann Howard Webbs nächsten Schritt auf dem Weg zum Finale, nahm die brasilianische Anleihe bei der deutschen Nationalmannschaft der Ära Ballack (“Das 1:0 erzielen wir am besten per Kopf nach einem Standard”) interessiert zur Kenntnis und stellte zum wiederholten Male fest, dass der Satz “Kaka sucht noch seine Form” nicht so recht zu seinen teilweise brillanten Torvorlagen passt.

Japans Ausscheiden bedauerte ich nicht zuletzt deshalb, weil ich so gerne Herrn Endo bei seinen Freistößen zusehe. Ähnlich stark ritualisiert wie bei CR7, aber nicht annähernd so prätentiös und mit angenehm weit heruntergezogenen Stutzen. Gut getreten sind sie noch dazu.

De Bleeckere könnte Webb noch Konkurrenz machen, vielleicht auch der Usbeke. Oder Baldassi, falls Argentinien am Samstag ausscheidet – auch wenn er Villas Tor gegen Portugal zu Unrecht anerkannte, aber das war wohl nicht nur seinem Assistenten etwas zu schnell gegangen. Sind meine Einschätzungen längst überholt? Wäre insofern nicht ganz überraschend, als meine einzigen Informationsquellen das Fernsehen und eine kleine Regionalzeitung sind. Internet? Fehlanzeige. Abgesehen von den paar Minuten heute vormittag.

Abschlussfrage: Habe eigentlich nur ich Llorente als Wiedergänger von Norbert Dickel erkannt?