Wahlrecht, Legitimation, Verantwortung

Die vorläufigen Ergebnisse der Europawahl und hier in Baden-Württemberg auch der Kommunalwahl lassen mittlerweile nur noch geringe Veränderungen erwarten. Wie immer haben fast alle Parteien Wahlsiege errungen, und wenn sich derlei beim besten Willen nicht herbeireden lässt, dann ist das Ergebnis eben der Bundes- oder einer anderen gerade nicht zur Wahl stehenden Politik geschuldet.

So weit, so bekannt. Alles andere als neu ist auch die -berechtigte- Klage über die geringe Wahlbeteiligung, und in ihrem Schlepptau die wohlfeile These, die gewählten Abgeordneten verfügten nicht über die notwendige Legitimation durch die Wahlberechtigten, wie sie beispielsweise in der Sprechblase formuliert -und in den dortigen Kommentaren kontrovers diskutiert- wird.

In der Tat ist es erschreckend, dass die stärkste Partei gerade einmal 16% der potenziellen Wählerstimmen für sich mobilisieren konnte. Den Parteien ist es nicht gelungen, den Wählern die Bedeutung von Wahlen im Allgemeinen und der aktuellen im Besonderen zu vermitteln. Ähnlich erschreckend ist indes die dieser Einschätzung zugrunde liegende Haltung, dass die Parteien, und nur die Parteien, in der Pflicht stünden, die Bürger zur Urne zu tragen.

Es ist nicht en vogue, von Verantwortung zu reden. Verantwortung für das Gemeinwesen und Verantwortung für das eigene Tun, ohne dass man sich beispielsweise anlässlich einer Wahl von PolitikerInnen an die Hand nehmen oder gar den Griffel führen lassen muss. Ich finde schon, dass ich als Bürger in der Verantwortung stehe. Ich sehe mich in der Pflicht, meinen Teil für ein funktionierendes Gemeinwesen zu leisten, und wenn es nur dadurch ist, dass ich zu einer breiten demokratischen Basis der Volksvertreter -auf welcher Ebene auch immer- beitrage. Auch wenn die Defizite der zur Wahl stehenden Alternativen häufig unübersehbar sind.

Wer nach einer angemessenen Informationsphase der Meinung ist, die im politischen Wettstreit befindlichen Parteien und/oder Kandidaten seien allesamt unwählbar*, hat eine Reihe von Optionen. Er (oder sie) kann sich, zumindest mittelfristig,  selbst politisch engagieren und von seinem passiven Wahlrecht Gebrauch machen. Etwas kurzfristiger kann er zumindest den Dialog mit den zur Wahl stehenden Kandidaten suchen, um nach Möglichkeit Einfluss auf deren künftige Politik zu nehmen – und kurzfristig vielleicht auch den Grad der Unwählbarkeit bestimmen, vergleichen, Kompromisse eingehen und letztlich doch wählen.

Bleibt man gleichwohl bei dem Schluss, niemanden wählen zu können, dann könnte man, wenn einem an dem Gemeinwesen gelegen ist, zumindest ein Zeichen setzen. Indem man einen ungültigen Stimmzettel abgibt. Nicht wählen zu gehen ist kein Zeichen. Nicht wählen zu gehen drückt Desinteresse oder Gleichgültigkeit aus, aber keinesfalls Protest, und erst recht kein Verantwortungsgefühl.

Die gleichwohl verbreitete Argumentation, die Wahlverweigerung sei ein Mittel, um den (künftigen) Abgeordneten die Legitimation abzuerkennen, ist bestenfalls interessant. Was bezweckt man damit? Dass die Wahl wiederholt wird, wegen zu geringer Beteiligung? Das ist nach meiner Kenntnis zumindest bei den Wahlen, bei denen ich wahlberechtigt bin, nicht vorgesehen. Und wenn es doch soweit käme, was würde das ändern? Wer brächte dann die Alternativen auf den Weg? Die Verweigerer etwa? Warum haben sie das dann nicht früher getan?

Ist der Ansatz, nicht wählen zu gehen, um den Abgeordneten die Legitimation zu verweigern, nicht vielmehr mit dem Verhalten zu vergleichen, das man gemeinhin -wenn auch fälschlicherweise- dem Vogel Strauß nachsagt? Den Kopf im Sand versteckend, ignoriert man schlichtweg die Wahl, die eigenen Alternativen, die eigene Verantwortung. Und wundert sich schimpft, wenn andere für einen mit entscheiden.

*Zur Einschätzung des Begriffs “unwählbar” hat sich Lukas von Coffee and TV bereits deutlich geäußert: “Unwählbar” aber ist ein kreischendes, absolutes Urteil, das damit in der langen Reihe von Schlagworten wie “Faschismus” und “Zensursula” steht und die Frage, warum sich eigentlich kaum ein Politiker für die Interessen der Netzgemeinde interessiere, von selbst beantwortet.