Es gibt eine Menge guter Gründe, Martin Harnik zu mögen. Sei es der Umstand, dass es eine Freude ist, Interviews mit ihm zu sehen und zu hören (in guten wie in schlechten Phasen), sei es sein Engagement auf dem Platz, sei es die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Mir gefällt, dass er sich nicht scheut, sich auch einmal kritisch über das Verhalten der Fans zu äußern, ohne in das zu verfallen, was man gemeinhin mimimi nennt.
Ok, sein Torjubel reißt mich nicht zu Begeisterungsstürmen hin, auch sein Spiel gab in der aktuellen Saison nicht immer Anlass dazu. Was indes kaum Auswirkungen auf meine Grundsympathie hat. Natürlich mag ich es auch, um aktuelle Geschehnisse mit einzubinden, dass er eine klare Meinung zum Artenschutz im Fußball hat und vertritt, und ganz besonders mag ich in diesen Tagen: seine Stutzen.
Stutzen? Sagt man heute überhaupt noch Stutzen, oder hießen die formal nur zu jener Zeit so, als sie noch Stege anstelle von Fußteilen hatten? Wie auch immer, Sie wissen schon, jene Strümpfe, die in zunehmendem Maß die Knie der Spieler bedecken, zumindest aber die Scheinbeine. Keine Sorge, ich will jetzt nicht zu einem Overknee-Bashing ansetzen, ich habe mich im Grunde damit abgefunden – auch wenn ich zugeben muss, dass, wenn es einen Punkt gibt, an dem ich gerne in die verbreitete Kritik an Cristiano Ronaldo einstimme, es die von mir so empfundene (erstmals 2003, als er in Stuttgart Champions League spielte), einer genaueren Überprüfung aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Stand haltende, Einführung der Oberschenkelstutzen in den Fußball ist.
Abseits der Overkneehipsterfrage also scheint es mir heutzutage doch so zu sein, dass der gemeine Fußballspieler (bei den Spielerinnen kann ich es zugegebenermaßen nicht seriös einschätzen, die Stichprobe ist zu klein) seine Stutzen mindestens bis knapp unter die Kniescheibe zieht und während des Spiels auch Wert darauf legt, dass sie dort bleiben mögen. Ist ja auch nicht weiter verwunderlich. Man trägt von frühester Jugend an Schienbeinschoner, auch im Training, und wer im letzten Jahrzehnt einmal Jugendmannschaften trainiert oder eigene Kinder auf den ersten Vereinsfußballschritten begleitet hat, der weiß, dass allein das Längenverhältnis von Schoner und Beinen gar keine andere, beinfreiere Lösung zulässt.
Die Generation, die noch schonerfrei antreten durfte, hat sich aus dem aktiven Sport längst zurückgezogen. Im Profibereich sowieso, aber auch bei unsereinem muss man zumindest zu den Ü40ern gehen, um noch auf Leute zu treffen, die aus eigener Erfahrung von jenen Zeiten schwärmen, als man noch mit heruntergerollten Stutzen kicken durfte, auf Leute also, die Schienbeinschoner noch heute eher als störendes Übel denn als selbstverständliches Accessoire betrachten. So’n bisschen wie beim Sicherheitsgurt oder bei der Helmpflicht, ne? Vom V-Stil gar nicht zu reden.
So war es auch kein Wunder, dass speziell zu Beginn der neuen Zeitrechnung gerade von den langjährigen Verweigerern Schienbeinschoner getragen wurden, die bei wohlwollender Betrachtung knapp über den Knöchel reichten, um die lieb gewonnene Beinfreiheit nicht aufgeben zu müssen. Hatte was Archaisches, irgendwie. Hat irgendjemand, wenn er an Briegels Sportlerwaden oder Kaltz’ lange Rehbeine im Nationaltrikot denkt, Stutzen vor Augen, Schienbeinschoner gar? Oder wer wüsste noch, dass Littbarski 82 in der regulären Spielzeit die Schoner noch an und die Stutzen oben hatte? Eben.
Als es ums Ganze ging, waren sie unten. Ganz unten. Geht heute nicht mehr. Aber ums Ganze geht’s heute auch noch, manchmal. So am Mittwoch gegen Freiburg, und spätestens Mitte der zweiten Halbzeit lief Martin Harnik herum, als hätte er sich eine Zigarettenschachtel als Scheinbeinschonerattrappe in die Stutzen gesteckt. Zugegeben: kurzzeitig war ich versucht, mich zu bücken, um die eigenen Strümpfe hochzuziehen, des Phantomkribbelns an der Wade wegen. Doch von Minute zu Minute gefiel mir der ungewohnte Anblick, gefielen mir seine Waden besser, interpretierte ich die hängenden Stutzen als moderne Form des Ärmelhochkrempelns. (Ohne nach Ärmelhochkremplern vom alten Schlag rufen zu wollen.)
Antonio Rüdiger hatte die Stutzen oben. Dennoch machte auch er mir sehr viel Freude. Während des Spiels, klar. Ganz besonders aber auch im Moment des Schlusspfiffs, als er im Vollsprint, und ich meine im Vollsprint, auch wenn mir da die Verklärung einen Streich spielen mag, zu den Fans rannte, Alexandru Maxim im Schlepptau. Jenen Alexandru Maxim, dem gemeinsam mit Raphael Holzhauser die Aufgabe zugefallen war, in den letzten Spielminuten den Ball in einer Telefonzelle an der Eckfahne zu halten, und der es sich dabei nicht nehmen ließ, zum Rainbow Flick (ja, hab ich nachgeschlagen) anzusetzen. Gelang nicht, wie ihm auch zuvor der eine oder andere unnötige Fehler unterlaufen war. Wie er indes auf wirklich engstem Raum immer wieder den Ball behauptete, imponierte mir sehr, weshalb ich, obschon der Aussagekraft wie auch dem Zustandekommen von Benotungen gewahr, hiermit Beschwerde gegen die “3” der Stuttgarter Nachrichten einlege.
Zwei kurze Punkte noch: zum einen ziehe ich den Hut vor Bruno Labbadia. Wie der VfB die Freiburger, die in der laufenden Saison nach meiner Kenntnis nicht allzu oft überrascht wurden, in den ersten Minuten unter Druck setzte und mit langen Bällen und zielstrebigem Flügelspiel zu Chancen kam, war bemerkenswert und sah so aus, als stecke System dahinter. Wie nahezu im gesamten Spiel.
Zum anderen bin ich unverändert zuversichtlich, am 1. Juni Labbadias großes Interview in der Süddeutschen lesen zu dürfen. Da darf er sich dann gerne noch einmal über die bösen und böswilligen Berichterstatter beschweren. Und meinetwegen, ich gönne es ihm, danach noch den Pokalsieg mitnehmen. Natürlich sollte man sich seiner Sache nicht zu sicher sein und den Finalgegner keineswegs unterschätzen, genau wie damals gegen Cottbus, aber ein bisschen Demut dürfte der VfB noch im Köcher haben, dann wird das schon.
Bedauerlicherweise hat der Finalgegner in Thomas Müller einen Spieler, der, wenn es drauf ankommt, gerne ähnlich tief blicken lässt wie Harnik, wadenmäßig. Fifty-fifty also, würde ich sagen.