Dugarry!

Dugarry! Dugarry! Dugarry!

Wir schrieben den 20. November 1993, im Stade Vélodrome zu Marseille war die AJ Auxerre zu Gast, und die (korrekter: der) Virage Sud skandierte ausdauernd den Namen eines jungen Stürmers aus Bordeaux? Irgendetwas stimmte da nicht, und wir würden herausfinden, was es war.

Ich blickte zwei Monate zurück, auf den 18. September, meinen ersten Besuch im Vélodrome, der gleichzeitig auch die Gelegenheit war, bei der ich besagten Dugarry erstmals hatte spielen sehen:

Bordeaux reiste als Tabellenführer an. OM hatte wenige Monate zuvor die Champions League gewonnen, in gedoptem Zustand, wie es heißt. Gar nur wenige Tage zuvor hatte man durch ein gekauftes Spiel gegen Valenciennes die Meisterschaft gewonnen, wie man weiß. Auf sanften Druck der Uefa wurde der französische Meistertitel aberkannt, in der Champions League durfte man nicht antreten, und der gemeine Marseillais sah sich in seiner herzlichen Abneigung gegen den französischen Verband bestätigt, manche würden wohl sagen (ich gehöre dazu): gegen so ziemlich alles, was aus Paris kommt. Marseille, c’est pas la France, Sie wissen schon.

Angesichts dieser Gemengelage brachte das Spiel gegen den Spitzenreiter – der ebenfalls nicht im Verdacht stand, zu den beliebtesten Gästen zu zählen, was dem einen oder anderen verbreiteten Fangesang noch heute zu entnehmen ist – eine gewisse Brisanz mit sich. Mit meiner 4L hatte ich mich kurzfristig auf den Weg gemacht, es war ja nicht weit, aber eben zu spät, um noch auf den Bus zu warten, mit drei Engländern im Auto, die die ganze Zeit von Chris Waddle redeten, von seinen drei großartigen Jahren in Marseille. Dass ich seiner in erster Linie als Elfmeterschütze gedachte, behielt ich für mich. Entgegen aller Erwartungen fand sich ein mehr oder weniger regulärer Parkplatz auf dem Boulevard Michelet, der Schwarzmarkt florierte, ohne dass die Preise bereits ins Unermessliche gestiegen wären: 100 Franc, Stehplatz, Virage Sud, alles gut. Eher zufällig aß ich noch rasch mein allererstes Sandwich Merguez Frites, das fortan zum Stadionbesuch gehörte wie heute eine rote Wurst, und betrat dann erstmals das Vélodrome. Quelle ambiance! So kritisch ich heute pyrotechnischen Aktivitäten in Fußballstadien gegenüberstehe – damals war der bunte Rauch elementarer Bestandteil einer Atmosphäre, die mich vom ersten Moment an gefangen nahm.

Mein Platz war zunächst beschissen, unmittelbar neben einem stark frequentierten Durchgang, sodass ich immer wieder einen Schritt zur Seite gehen und in der Folge Verrenkungen machen musste, um aufs Spielfeld zu sehen. Von den Gesängen verstand ich erst einmal kein Wort, um mich herum sprachen Menschen in Zungen – erst Jahre später, als ich erstmals Snatch sah, sollte ich wieder ähnlich verständnislos zuhören -, und zu allem Überfluss ging der Gast in der ersten Minute in Führung. Unschön, aber: egal. Ich fühlte mich großartig. Auf dem Feld standen Leute wie Boli, Deschamps, der phänomenale Boksic und der wunderbare Piksi Stiojkovic, natürlich Völler und Barthez, Boghossian, der am Beginn seiner ersten starken Saison stand, und nicht zuletzt Éric di Meco, dessen Kultstatus sich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht erschloss. Marcel Desailly sollte an diesem Tag die besondere Ehre zuteil werden, das erste in einer Reihe mehr oder weniger prominenter Opfer von Zinédine Zidane zu werden, der sein professionelles Platzverweisdebüt stilecht mit einem Faustschlag beging. Der Heldenstatus in seiner Heimatstadt Marseille würde noch ein Weilchen auf sich warten lassen.

Im Lauf des Spiels gewöhnte ich mich an die Gesänge, erinnerte lautstark an den 26. Mai, auch wenn ich jenes Spiel nur in Teilen gesehen hatte, stimmte mit zunehmender Inbrunst ins “Aux Armes!” ein und merkte vor allem eines: “Quand le virage se met à chanter, c’est tout le stade qui va s’enflammer!” Möglicherweise lag es indes nicht nur an der Kurve, sondern auch ein wenig am Spielverlauf: di Meco glich gleich nach der Pause aus, Dutuel erhöhte und Prunier, William Prunier, der in der Vorsaison noch im Uefa-Cup-Halbfinale gegen Dortmund für AJ Auxerre den Haudrauf gegeben hatte, setzte kurz vor dem Ende den Schlusspunkt. 3:1, der Tabellenführer war zwar nicht gestürzt, aber man war jetzt punktgleich mit den Bordelais und hatte gezeigt, dass es l’OM, den Ungerechtigkeiten der Welt zum Trotz, an die wir fortan wie selbstverständlich auch glaubten, allen erst recht zeigen würde. Christophe Dugarry wurde bei den Girondins eingewechselt – ein Name (und ein junger Mann), den ich bald darauf und auf Jahre Jahrzehnte hinaus mit der WM 1994 assoziieren würde.

In der Liga sollte sich indes schon beim nächsten Heimspiel gegen Metz mehr als nur andeuten, dass bei OM einiges im Argen lag – nicht nur in sportlicher Hinsicht, sondern auch und ganz besonders neben dem Platz: kurz vor Schluss musste die Partie beim Stand von 0:3 wegen eines Platzsturms abgebrochen werden. Es sollte nicht mein einziger Spielabbruch im Vélodrome bleiben. Anderthalb Jahre später, man war zwischenzeitlich als Spätfolge der Valenciennes-Sache in die zweite Liga versetzt worden, lag man gegen Nancy mit 0:2 zurück, als erneut Sitzschalen und was weiß ich alles flogen – und mir nicht so ganz wohl war in meiner Haut. Barthez war früh vom Platz geflogen, Casoni später auch, und natürlich war die Welt wieder einmal ungerecht. Genau wie am Ende jener Zweitligasaion, die man zwar als Meister beendete; aufsteigen durfte man dennoch nicht und musste sich noch ein weiteres Jahr gedulden.

Aber ich war ja eigentlich in der Saison 93/94. Großartige Spiele wie jenes gegen Bordeaux wechselten sich lange Zeit mit furchtbaren Auftritten wie dem gegen Metz ab, ehe man sich in der Rückrunde auf Platz zwei festsetzte. Nicht zuletzt dank Sonny Anderson, der eine herausragende Saison spielte (und danach nach Monaco wechselte), gewann Rudi Völler das Nationalstürmerduell gegen Klinsmanns Monaco, und ich verpasste kein Heimspiel.

Was ich indes ein wenig stiefmütterlich verfolgte, war der Fußball in Deutschland, und war nicht zuletzt die Endphase der WM-Qualifikation. Die Niederlage der Franzosen gegen Israel hatte ich nur so halb verfolgt, und auch beim entscheidenden Spiel gegen Bulgarien am 17. November saß ich nicht vor dem Fernseher, sondern streifte ein wenig durch die Stadt. Könnte mit einer Frau zu tun gehabt haben. Im Vorbeigehen hörten wir Jubel aus einer Kneipe, die Uhrzeit verriet, dass das Spiel gerade so vorbei sein dürfte, beim Blick durch die Eingangstür waren jubelnde Menschen in OM-Trikots zu sehen. Da hätte man stutzig werden können. Als einer von ihnen herauskam, frug ich nach dem Ergebnis, und ob Frankreich es nun doch noch geschafft habe, was er, offensichtlich hocherfreut, verneinte. Ich gebe zu, ich war, obwohl ich schon einige Zeit in Marseille verbracht und die, vorsichtig ausgedrückt, verbandskritische Stimmung im Stadion im Grunde alle zwei Wochen erlebt hatte, ein wenig überrascht. Naiv, offensichtlich.

Drei Tage später spielte OM im Vélodrome gegen Auxerre, wir waren recht früh da, um vor dem Spiel ein wenig von der Stimmung mitzubekommen. Als sich das Stadion langsam füllte, wurden die ersten Gesänge angestimmt.

“Dugarry! Dugarry! Dugarry!”

hieß es da, wir sahen uns zunächst verwirrt an, da der Betreffende nach wie vor für Bordeaux aktiv war, auch noch nicht für die Nationalelf, und für OM sollte er erst viele Jahre später auflaufen. Also hörten wir noch etwas genauer hin:

“Bulgarie!”

Schön, dass sich Frankreich für die EM 2012 qualifiziert hat.

Bewaffnet

Wie bei jedem Heimspiel des VfB waren auch am Samstag wieder mehr als 20.000 bewaffnete Zuschauer im Stadion. Mir war das zuvor gar nicht so bewusst gewesen, wenn ich ehrlich bin. Aber der DFB hat mir die Augen geöffnet:

5000 Euro Geldstrafe für den VfB Stuttgart

[…] Beim Gang in die Halbzeitpause während des Bundesliga-Meisterschaftsspiels zwischen dem VfB Stuttgart und dem Hamburger SV am 13. Februar 2010 in Stuttgart wurde ein Stadionheft von der Haupttribüne in die Richtung des Schiedsrichters geschleudert, dass diesen knapp verfehlte.

Dumme Sache, dass. Vielleicht sollte ich mal versuchen, herauszufinden, wessen Stadion Aktuell am Samstag zwei Meter neben mir landete. Und dann meinen Anwalt auf ihn ansetzen.

Wie man gelesen hat, kam es am Samstag andernorts zu gravierenderen Zwischenfällen mit nicht (oder vielleicht doch?) als Waffen gedachten Mitbringseln. Auch in Stuttgart waren wieder einige Pyrotechniker zugange, wenn auch, soweit ich es beurteilen kann, weniger folgenschwer. Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll – eine Diskussion übrigens, die selbstredend immer wieder geführt wird. Vor vielen Jahren war ich regelmäßiger Gast im Stade Vélodrome, was meine Sozialisation als Stadiongänger prägte und mir eine gewisse Begeisterung für vielerlei pyrotechnische Spielereien in Fußballstadien einpflanzte.

Mittlerweile bin ich ein paar Jahre älter, etwas verantwortungsbewusster und in mancherlei Hinsicht auch deutlich ängstlicher. Während ich also vor zwei Wochen die Bengalos (vielleicht heißen die auch anders, da bin ich völliger Laie), die der HSV-Anhang in seinen Vereinsfarben abbrannte, zwar mit einem gewissen Unbehagen, aber auch nicht ohne Faszination beobachtete, war mir am Samstag schon etwas weniger wohl, als es wenige Meter neben mir plötzlich knallte – diesmal immerhin nicht über unseren Köpfen. Wenn ich das Ganze richtig gedeutet habe, war auch das Commando Cannstatt nicht sonderlich glücklich darüber: mindestens ein exponiertes Mitglied schien die Verursacher in der Pause deutlich zurecht zu weisen, sodass der VfB in der zweiten Hälfte pyrotechnisch nicht mehr auf sich aufmerksam zu machen vermochte.

Im Gästeblock fruchteten etwaige sozialhygienische Maßnahmen nicht im gleichen Maße, sodass dort zunehmend versucht wurde, von außen Einfluss zu nehmen. Ordnungskräfte marschierten auf, was die Frankfurter Fans nicht unmittelbar beruhigen konnte, die dann auch ihre kontroverse Kommunikation mit den Nachbarblöcken weiter intensivierten (woran vermutlich beide Seiten ihren Anteil hatten). Während ich bis dahin geneigt war, mich schulterzuckend dem Spiel zuzuwenden, ging die Sache einigen anderen Stadionbesuchern kurz darauf deutlich näher: als nämlich mehrere Knallkörper über den Zaun in den Innenbereich flogen, fanden das allem Anschein nach die im dortigen Umfeld platzierten Rollstuhlfahrer nicht allzu witzig und verließen mit ihren Begleitern jene Ecke des Stadions.

Manchmal fehlen einem dann doch die Worte.

Zum Spiel fällt mir übrigens auch nicht allzu viel ein. 2:1 gewonnen gegen Eintracht Frankfurt. Klingt unspektakulär, war unspektakulär. In Frankfurt ist man mit einiger Berechtigung unzufrieden mit dem Ergebnis, auf schwäbischer Seite schätzt man sich glücklich, den Arbeitssieg eingefahren zu haben, der nach dem Highlight gegen Barcelona alles andere als selbstverständlich war.

Zu Cacau fällt mir erst recht nichts mehr ein, zu Hleb manches, das nicht druckreif (ist der Begriff noch zeitgemäß?) ist. Sicher, er hatte wieder ein paar ganz gute Szenen, und ganz ohne Frage war der für ihn eingewechselte Hilbert keine Verstärkung. Letzteres gehört zu den Erkenntnissen, die unter “hinterher ist man immer schlauer” abzulegen sind, ersteres ist kein gutes Zeugnis für einen Spieler mit Hlebs Ansprüchen. Am Dienstag hatte er durchspielen dürfen und in den letzten Minuten Glück gehabt, dass Barcelona nach seinen Fehlpässen schlecht konterte. Als er gegen Frankfurt bereits nach einer knappen Stunde erneut zwei kritische Ballverluste verschuldete, sah ich zu Christian Gross, der sich just in diesem Moment zu seinem Co-Trainer umdrehte, der wiederum sogleich zu den sich aufwärmenden Ersatzspielern eilte.

Wenige Minuten später kam Hilbert auf den Platz. Zurecht. Und ich könnte gut damit leben, wenn die Startplätze auf den Außenpositionen in den nächsten Wochen unter den Herren Gebhart, Rudy und Hilbert verteilt würden. Auch wenn das kurzfristig eine Schwächung sein könnte, was ich nur bedingt glaube. Von mir aus soll Hleb in Barcelona noch einmal auflaufen – dass er dort motiviert sein dürfte, hat er mit seiner Leistung vom Dienstag quasi versprochen -, aber ansonsten kann ich verzichten. Sein Gemecker geht mir auf die Nerven, seine Leistungen ragen nicht heraus – da sähe ich lieber Sebastian Rudy mal ein paar Spiele lang in der Startformation, auf dass er sich beweisen möge.

Und sage mir keiner, das sei ein zu großes Risiko. Zum einen bin ich guter Dinge, dass Rudy überzeugen würde, zum anderen: was soll’s? Der Abstieg ist nur noch eine theoretische Option. Der Uefa-Cup meines Erachtens auch. Würde mich interessieren, wer daran glaubt, dass man an Ostern noch ernsthaft vom internationalen Geschäft redet, nach den Spielen in Bremen, Gelsenkirchen und München.

Ansonsten hoffe ich unter anderem, dass Cristian Molinaros letztes Wort “ja” lautet, dass Timo Gebhart aus zentraler Position von der Strafraumgrenze auch mal abschließt, gerne mit der Pike, anstatt noch einen Haken zu schlagen, dass Serdar Tasci seine wiederentdeckte Lust am Zweikampf konservieren kann und dass die Herren Celozzi und Khedira im eigenen Strafraum den Ball künftig einfach mal wegschlagen (was gegen Barcelona sogar Timo Gebhart zustande brachte).