Träumerei

Samstag, 13 Uhr. In zweieinhalb Stunden beginnt das erste Erstligaheimspiel des VfB Stuttgart seit etwa 15 Monaten. 476 Tage. Der Gegner trägt denselben Namen wie damals, als die Trainer Schmidt und Kramny, die Sportvorstände Heidel und Dutt, die Präsidenten Strutz und Wahler hießen. Der FSV Mainz 05 besiegelte quasi den Abstieg jenes Vereins, gegen den er selbst knapp 12 Jahre zuvor sein allererstes Bundesligaspiel bestritten und standesgemäß verloren hatte. Heute tritt der VfB als Aufsteiger gegen einen etablierten Bundesligisten an, der seit 2013 stets vor dem VfB stand und zum Transferziel für ambitionierte Stuttgarter Leistungsträger avanciert ist.

Aber ich will nicht auf den Gegner schauen – der VfB bietet ganz allein hinreichend Stoff zum Nachdenken. Es ist ein anderer VfB als vor 15 Monaten, einer, der nicht gerade durch die zweite Liga cecruist ist, aber doch seiner Favoritenrolle, den Ansprüchen der Fans und der Einschätzung Fußballdeutschlands gerecht wurde. Trotz keineswegs überragender Leistungen war die Euphorie zum Zeitpunkt des Aufstiegs groß, die Aufbruchstimmung mit Händen zu greifen, die Erwartungshaltung selbstbewusst.

Mit der Zweitligasaison war, wie oben angedeutet, der Wechsel wichtiger Akteure einhergegangen, zum Teil mehr als einmal. Welchen Anteil diese Veränderungen bzw. die neuen handelnden Personen am Erfolg des letzten Jahres, den als bloßes Ausbügeln eines Betriebsunfalls zu betrachten en vogue und nicht gänzlich von der Hand zu weisen, vielleicht aber auch ein bisschen zu selbstverliebt und überheblich ist, lässt sich schwer sagen.

Über den Präsidenten will ich in diesem Kontext kein Wort verlieren, über die damalige Trennung von Robin Dutt und Jürgen Kramny zu reden ist müßig, und ob Jos Luhukay die Kurve noch bekommen hätte, nun, ich kann es nicht ausschließen. Aber wenn, und da bin ich mir relativ sicher, dann wäre es auf andere Art und Weise geschehen, mit anderen Protagonisten, und vermutlich auch, aber hier wird es in inakzeptablem Maße spekulativ, mit weniger Aufbruchstimmung.

Und nein, Hannes Wolfs Team hat kein Feuerwerk abgebrannt. Wir haben keine fußballtaktische Revolution erlebt, keinen überwältigenden Hochgeschwindigkeitsfußball, auch nicht die Geburt neuer Traumkonstellationen auf dem Feld. Nach heutigem Stand. Wir haben häufig solide, in Einzelfällen verheerende Spiele gesehen, kein faszinierendes Spielsystem, das die Taktikportale zu seitenlangen Artikeln und uns zu Lobpreisungen der neuen Stuttgarter Schule veranlasst hätte.

Wir konnten auf Simon Terodde und einige andere bauen, auf Pragmatismus, Leistungsbereitschaft und individuelle Klasse, mitunter auf klug geführte Spiele und passgenaue Vorgaben für einzelne Partien. Und auf einen Trainer, der in hohem Maße teamorientiert, entwaffnend ehrlich, erfreulich humorvoll und in der Sache kompetent ankommt, der aber das eine oder andere Mal auch deutlich danebenlag. Privileg der Jugend? Meines Erachtens: ja.

Auch wenn nicht alles danach klingt: Es war ein großartiges Jahr. Ein Jahr, in dem uns Carlos Mané verzückt hat, in dem Ebenezer Ofori andeutete, wie elegant ein moderner Sechser auf dem Platz agieren kann, in dem Josip Brekalo noch zu viele falsche Entscheidungen traf, wir aber eine Ahnung davon erhaschten, was da kommen könnte, wenn er noch öfter richtig entscheidet, ein Jahr auch, in dem Neuzugänge Burnic, Akolo, Pavard oder Grgic hießen statt Werner, Hosogaj oder Aogo, und in dem diese Neuzugänge vom Verein verkündet wurden, ohne tage- oder wochenlang durch die Presse getrieben worden zu sein.

Ich weiß nicht, ob die Herren Burnic, Akolo, Pavard und Grgic, auch Brekalo, Mané und andere dem VfB auf Sicht mehr helfen werden als Werner, Hosogaj, Aogo oder Badstuber, aber ich sage es gern: Es war eine schöne Reise, eine wunderbare Illusion. Die Vorstellung, mit einem jungen Trainer, einem unprätentiösen Sportvorstand, den ich bisher gar nicht nannte und der doch durch all die zitierten Namen mehr als nur durchschimmerte, und eben diesen jungen Spielern, deren Zukunft wir alle nicht so genau absehen können, in der Bundesliga zu bestehen, sie vielleicht über kurz oder lang auch ein bisschen aufzumischen, war fantastisch. Im Wortsinne.

Sie ist geplatzt, einer der Protagonisten ist nicht mehr hier, über die Gründe haben wir alle mehr als genug gelesen, oder eben gerade nicht, und nun hat also der nicht so unprätentiöse Präsident einen großen Namen präsentiert, von dem ich durchaus eine Menge erwarte, und mit ihm dann auch gleich die Badstubers und Aogos dieser Welt, von denen ich zum Teil einiges erwarte, zudem den jungen Mann aus Argentinien, von dem die Welt einiges zu erwarten scheint, und im Grunde mögen das alles Schritte in eine gute Richtung sein.

Und wenn der VfB dann am Ende der Saison sein Soll übererfüllt hat, dank Herrn Reschke, dank der genannten Spieler, dank eines Trainers, der vielleicht noch Hannes Wolf, vielleicht auch ganz anders heißt, größer, etablierter, dann werde ich nicht nur anerkennend den Hut ziehen, sondern auch jubeln, vielleicht begeistert sein, vermutlich Abbitte leisten. Und dabei denken, dass die andere Geschichte, die Träumerei, trotzdem die schönere gewesen wäre.

 

 

2 Gedanken zu „Träumerei

  1. […] intelligenten, sympathischen jungen Mann eine dauerhaftere Erfolgsgeschichte zu schreiben. Eine Träumerei, Sie erinnern sich. Es sollte nicht sein, und ich würde gerne den bösen Leuten aus dem Vorstand […]

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