Normalität

Gestern fand das Hinspiel der diesjährigen Relegation um den letzten verbleibenden Bundesligaplatz für die kommende Saison statt. Es wurde überschattet von den Geschehnissen um den offenbar schwer erkrankten Marco Russ, und vor allem anderen wünsche ich ihm von Herzen eine baldige und vollständige Genesung.

Nicht ganz unerwartet verschob sich das öffentliche Interesse im Vorfeld des Spiels zusehends weg vom rein Sportlichen hin zum Schicksal des Spielers; die als bewusste Geste interpretierte Entscheidung, ihn und nicht den etatmäßigen, aber lange verletzten Spielführer Alex Meier die Kapitänsbinde tragen zu lassen, verstärkte diese Tendenz weiter. Die Geschichte des Spiels ist bekannt: Russ brachte seine Mannschaft durch ein Eigentor in Rückstand, das bundesweite Aufstöhnen war zu erahnen, das Bedauern schmerzte körperlich. Der Wille, seinen Lapsus auszumerzen, war ihm fortan deutlich anzumerken – es war schließlich ein Relegationsspiel – und später sah er nach einem Foul eine gelbe Karte, die eine Sperre für das Rückspiel zur Folge hat.

Dass die sportliche Betrachtung angesichts der Vorgeschichte ein wenig in den Hintergrund rückte, war wohl unvermeidlich und ist im Grunde zu begrüßen: natürlich steht die Gesundheit über allem, und es ist beruhigend, dass die individuellen Kompasse hier in der Regel verlässlich funktionieren. Gleichzeitig boten die Begleitumstände – der Dopingverdacht, der Zeitpunkt der Veröffentlichung, die Kapitänsbinde – auf der einen Seite zu viel Gesprächsstoff. Auf der anderen Seite zeigten sie auch echten Diskussionsbedarf auf: zum Vorgehen der Staatsanwaltschaft angesichts des Dopingverdachts, vielleicht auch zu den dahinter liegenden Regularien, zum kolportierten Veröffentlichungsdruck, der – wieder einmal – von mindestens einem Medium ausgeübt worden sei, oder zum fernsehjournalistischen Umgang mit der Thematik vor, während und nach dem Spiel. Zu all diesen Facetten liegt bestimmt eine Vielzahl von Einschätzungen und Analysen vor; mein Thema sollen sie im Einzelnen nicht sein.

Dies gilt analog für die Äußerungen der Herren Weiler und Schäfer nach dem Spiel. Auch dazu ist man, gewünscht oder nicht, vielfältigen Meinungen und Einlassungen begegnet. Eine angemessen differenzierte Betrachtung fand ich beispielsweise beim geschätzten Herrn @Surfin_Bird:

Ich weiß, Herr Schäfer hat sich in recht deutlichen Worten von seinem dummen Interview distanziert, immerhin, und wer wäre ich, ihm zu widersprechen?

So etwas darf mir nicht passieren, das ist absolut nicht in Ordnung.

Stimmt. Das hätte ihm auch vorher bewusst sein müssen. Vielleicht hat er etwas daraus gelernt und denkt künftig einen Schritt weiter. Auch René Weiler wurde mit vernünftigen Worten zitiert, mehr Zeit möchte ich darauf nicht verwenden.

Was mich indes seit gestern Abend immer wieder beschäftigt, ist die Frage, die @Dagobert 95 gestellt hat, bzw. die Antwort von @ColliniSue:

Ist das so? Ist es so außergewöhnlich, dass Marco Russ spielen wollte? Also ganz abgesehen davon, dass eine solche Erkrankung per se im Profifußball eher außergewöhnlich ist? Seit gestern versuche ich mir vorzustellen, wie sehr er aus der Bahn geworfen war und ist. Er hatte das verstörende Ergebnis einer Dopingkontrolle erhalten, das entweder seine berufliche Existenz oder, viel schlimmer, seine Gesundheit massiv bedrohte. Ärztliche Untersuchungen, juristische Erwägungen, Gespräche mit der Familie natürlich, Überlegungen zu einer Veröffentlichung, und über alledem: Ängste. So stelle ich mir das vor, und die Realität dürfte eher drastischer sein als meine Gedanken.

Liegt es da nicht nahe, sich ein wenig Normalität zu wünschen? Ist es vielleicht beruhigend, all jene Rituale ablaufen zu lassen, die man in vielen Jahren als Profi für die 24 Stunden vor einem Fußballspiel verinnerlicht hat, voll fokussiert, zumal vor einem besonderen Spiel? 24 Stunden, in denen es gelingen könnte, diese beschissene Diagnose, deren Auswirkungen man nicht so ganz greifen kann, die vielleicht auch die Ärzte nur unzureichend einschätzen und beschreiben können, phasenweise ein wenig in den Hintergrund zu rücken?

Ich weiß nicht, ob dem so ist; glücklicherweise war ich noch nie in einer derart existenziellen Situation. Aber überraschen würde es mich nicht. Und wenn dann noch die Ärzte sagen, dass es keinen Unterschied ausmache, ob die Therapie drei Tage früher oder später beginnt, ob die Operation morgen oder erst in der kommenden Woche stattfindet, und wenn man sich als Betroffener gar vorstellt, dass – was eine höhere Macht verhüten möge – das bevorstehende Spiel möglicherweise das letzte auf diesem Niveau sein könnte, dann finde ich es, auf Basis all dieser Vermutungen und Hypothesen, alles andere als ungewöhnlich, dieses Spiel bestreiten zu wollen.

Eine ganz andere Frage ist die, ob die Verantwortlichen in Frankfurt, der Trainer, die Ärzte, vielleicht die Psychologen, eine Pflicht gehabt hätten, Russ von vornherein herauszunehmen, ihn zu schützen vor all dem, was da auf ihn einstürzen würde. Kann ich nicht beantworten. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass bzw. wie Niko Kovač, sofern keine medizinische Indikation vorliegt, Marco Russ hätte sagen wollen, dass er ihn nicht berücksichtigen werde.

Aber letztlich ist das alles irrelevant. Vielleicht ist es unangemessen, diese Überlegungen hier öffentlich zu machen, bloße Spekulationen um einen erkrankten Menschen und dessen Beweggründe, an einem Fußballspiel mitzuwirken. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Zeit gestohlen habe.

Abschließend wünsche ich Marco Russ nochmals alles Gute für die nächsten Wochen und Monate. Ich würde mich unsagbar freuen, ihn in absehbarer Zeit vollständig genesen wieder irgendwo mit seinen beiden Kindern an der Hand zu sehen. Wenn er noch dazu Fußballschuhe trägt: schön.

7 Gedanken zu „Normalität

  1. Du könntest bei Gelegenheit den Namen Deines Blogs mal ändern. Das ist alles beneidenswert weit gedacht.

    Und irgendwie abschließend. Danke.

  2. Hallo Herr Kamke,

    Die Äußerungen der Herren Schäfer und Weiler habe ich mir nicht zu Gemüte geführt. Aufgrund des Verweises auf den Tweet des Herrn Vogel glaube ich auch, dass ich das nun auch nachträglich nicht möchte. Grundsätzlich habe ich mich zum Thema Tumorerkrankung auf dem Medium Twitter bereits (sehr angepisst und motzig) geäußert. Was mich bei der laufenden Diskussion so dünnhäutig werden ließ, ist die vom fußballerischen Kontext abweichende Berichterstattung. Sowohl die privaten als auch öffentlichen Sender interpretierten bereits während des Spiels, dass die schwere Erkrankung von Marco Russ maßgeblich den Spielverlauf beeinflussen würde. Da hat der arme Kerl erst das zugegeben sehr unglückliche Eigentor geschossen und im weiteren Verlauf auch noch Gelb kassiert. Alle Augen richteten sich auf Russ. Warum ein Mensch Dinge tut oder eben nicht, in wieweit Trainer und Konsorten die freie Entscheidung eines Menschen mit frischer Diagnose einschränken dürfen, steht mir nicht zu. Ich denke dass es im Wesen eines empathischen Menschen liegt, sich nicht unbedingt in einen an Grippe erkrankten Menschen hineinzuversetzen. Das dies aber bei einer lebenseinschränkenden Diagnose zu tun, das halte ich für „normal“. Meine Gedanken sind stets von eigenen Erfahrungen mit dem Thema Krebs und der Aussicht auf das Sterben bei einen bereits fortgeschrittenen Verlauf beeinflusst. Hm, jetzt hab ich irgendwie den Faden verloren. Worauf ich hinaus möchte ist, dass ich es gut finde, wenn Menschen sensibel mit einem solchen Thema umgehen und die Entscheidungen des Erkrankten respektieren. Egal wie sie ausfallen mögen. Weil es das Leben und die Entscheidung dieses Menschen ist und nicht meine.

    Natürlich wünsche auch ich dem Herrn Russ volle Genesung und freue mich über die differenziert-kamkeeske Analyse. Vielen Dank für das Teilen ihrer Gedanken!

    1. (Was ich vergessen habe zu erwähnen ist, dass mich die Ausschlachtung persönlicher Schicksale (bei in der Öffentlichkeit stehenden Personen) durch einzelne Medien per se so dermaßen anwidert.)

  3. @ joshtree4:

    Oh, das ist aber ein schönes Kompliment, vielen Dank!

    @ dierudola:

    Frau Rudola, was für ein Kommentar! Bei der Länge darf man auch mal glauben, den Faden verloren zu haben.

    Ich sehe, wir denken da recht ähnlich. An einer Stelle würde ich ein “Aber” platzieren wollen, das jedoch nicht unbedingt ein Widerspruch sein muss: Ich denke schon, dass es Konstellationen gibt, wo der Trainer oder ein anderer Konsorte durchaus gefordert sein kann, den Spieler vielleicht vor seiner eigenen Entscheidung zu schützen, ihn einer emotionalen Ausnahmesituation nicht auszusetzen oder seine Übermotivation als solche zu erkennen. Was man dann natürlich auch wieder als reine sportliche Entscheidung interpretieren kann.
    (Oh, jetzt kam da gar kein “Aber” vor.)

    Ach, und: Ich hab da nichts Angepisstes und Motziges gelesen, drüben.

    1. Wenn hier so viele angenehme und weit gedachte Gedanken geäußert werden, dann möchte ich auch mal den einen Spargedanken äußern, der mir seit gestern Abend durch den Kopf geistert, den ich mich aber nicht traute zu äußern, weil ich das so anmaßend finde, sich in diese Situation hineindenken können zu glauben. Und weil ich, ehrlich gesagt, etwas Angst hatte, bei uns eine wenig zielführende Diskussion anzustoßen über etwas, worüber ich überhaupt nicht diskutieren will.

      Der Gedanke geht wie folgt:

      “Warum sollte man dem Mann denn jetzt auch noch den Fußball wegnehmen? Das macht der Scheiß-Krebs (oder seine Therapie) im Zweifel doch früh genug.”

      Ich meine – Relativierungs-Maschine an -, natürlich müssen die für ihn verantwortlichen Trainer, Vorgesetzten, Ärzte und (Sport-) Psychologen – und nicht zuletzt seine Lieben – selber und mit ihm gemeinsam gewissenhaft darüber nachdenken, ob das für ihn selber und für die Mannschaft eine gute Idee ist. Ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür, davon auszugehen, dies sei nicht geschehen. Ich darf also als Außenstehender zunächst davon ausgehen, dass es sich um eine psychologisch und sportlich sinnvolle Entscheidung handelt.

      Also, aus welchem Grund soll er denn dann bitte nicht spielen? Aus Anstand? Soll er jetzt schon mal anfangen, um sich selber zu trauern, oder was? Oder vielleicht doch eher aus Anstand uns gegenüber? Soll er vielleicht uns diese Realität eines Tumor-Erkrankten ersparen?

      Mit allem verfügbaren Respekt: Fickt Euch. Der Mann kann Fußball spielen, er will Fußball spielen und dann soll er auch Fußball spielen. Er soll schießen und grätschen und passen und verschieben und was man halt so macht heutzutage als Fußball-Profi. Und er soll abgegrätscht werden und überlaufen und auf Sprint-Duelle herausgefordert und es soll ihm weh getan werden. Und wenn er ein albernes Eigentor schießt, dann soll er von mir dafür auch ausgelacht werden.

      Normalität halt.

      Er wird demnächst sicher genug Nicht-Normalität bekommen. Solange er das selber nicht anders sieht, solange sehe ich keinen Grund, warum ich oder sonstwer verfrüht damit anfangen sollten.

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