Sie kennen das, nicht wahr? Man möchte noch schnell was schreiben, und eigentlich auch noch was zweites, ganz anderes, und ständig kommt was dazwischen, aber es ist einem ja wirklich ein Anliegen, beides, vielleicht könnte man das ja in einen Topf, Sie wissen schon, und eine hübsche Überschrift hat man ja auch schon, geklaut natürlich, aber schön, doch sie deckt den zweiten Teil nicht ab, und überhaupt passen die Inhalte ja eh nicht recht zusammen, aber, puh, gleich zwei Sachen veröffentlichen, muss ja auch nicht sein, ne, und, dann, tja, ach egal.
Vor ein paar Tagen hatte ich das Vergnügen, ein elektronisches Buch zu lesen. Der geschätzte Frédéric Valin (“Wäre ihr Spielstil eine Sprache, es gäbe keine Relativsätze, Adjektive nur an Sonntagen.” Über wen er das gesagt hat, in seiner EM-Vorschau? Schlagen Sie nach!) hat mir dieses Buch an die Hand gegeben, elektronisch, wie gesagt, aus der Elektrobibliothek, und ich wusste zwar ungefähr, worum es gehen und dass es mich interessieren, nicht aber, dass er mich bereits mit dem Titel komplett für das Büchlein einnehmen würde. Dieser Titel lautet eben, Sie mögen es geahnt haben, “Zidane schweigt”, auch wenn er, Zidane, wie auch im Text zur Sprache kommt, sich in mindestens einem Fall dann doch nicht daran halten konnte und reden musste, und vielleicht sollte ich hinzufügen, dass der Diminutiv “Büchlein” einzig und allein darauf hinweisen soll, dass es sich, wäre das Buch ein physisches, um einen eher dünnen, rasch zu lesenden Band handelt, keineswegs aber um leichte, gar seichte Kost.
Gut zu lesen sind seine Texte ohnehin, wenn man seinen Stil mag, und ich gebe zu, dass mir kaum Gründe einfielen, ihn nicht zu mögen. Inhaltlich sieht das schon ein bisschen anders aus, also zumindest dann, wenn man wie ich große Stücke auf Mario Gomez hält, aber das soll an dieser Stelle nichts zur Sache tun, denn in besagtem Buch geht es zwar auch um Fußball, ganz intensiv um Fußball, aber zum einen nur bedingt um deutschen Fußball und zum anderen auch weit darüber hinaus um eine politische und vor allem gesellschaftliche Komponente, die dem Autor ganz offensichtlich am Herzen liegt.
Frédéric Valin, der Name lässt es erahnen, ist nach eigenen Angaben “sehr französisch sozialisiert”, und so befasst er sich in “Zidane schweigt” mit dem französischen Fußball der letzten Jahrzehnte und in besonderem Maße seit 1998, seit jenem Sieg, den der Klappentext als “Beweis für ein Gelingen des Multikulturalismus in Frankreich” anführt und der auch den Ausgangspunkt des Textes darstellt. Frédéric begleitet diese französische Nationalmannschaft durch die folgenden Jahre bis hin zum Kulminationspunkt in Knysna, einem Ort, der im französischen Fußball einen Klang hat wie hierzulande Gijón oder Córdoba, tatsächlich aber weit über den sportlichen Aspekt hinausreicht – anders als die beiden genannten Tiefpunkte deutscher Fußballhistorie bezieht sich Knysna nicht auf ein konkretes Fußballspiel, sondern auf die verheerenden, großteils fußballfremden Geschehnisse im französischen Quartier während der WM 2010. Und nein, den Schlucksee akzeptiere ich nicht als Vergleich.
Knysna, so der Autor, war für die extreme Rechte, und damit sind wir also deutlich im politischen Bereich “ein Geschenk des Himmels”. Sie konnte die dortigen Vorgänge in ihrem Sinne deuten und auch rasch die öffentliche Wahrnehmung dominieren, in Frédérics Worten zeigten “die Medien ein Zerrbild einer Gesellschaft, die – so die Moral von Knysna – nicht funktionieren kann: eine voller Einwanderer, unterentwickelten Schulabbrechern, Leuten, die in den Straßenschluchten der Banlieues abhängen.”
Dieser Weg, von 1998 bis 2010, von ganz oben in einer keineswegs linearen Bewegung nach ziemlich weit unten, steht im Zentrum des Buches, mit viel Fußball, aber auch mit vielen gesellschaftlichen und politischen Betrachtungen, die deutlich weiter zurückreichen, zu Mitterrand, zu Tapie, und natürlich zum Aufstieg Jean-Marie Le Pens und seines Front National, und von dort dann wieder chronologisch nach vorne zur Ankunft von dessen Tochter in der Mitte der Gesellschaft.
Ich glaube, mich im französischen Fußball der letzten zwanzig Jahre ganz gut auszukennen, und auch gesellschaftspolitische Entwicklungen bei unseren Nachbarn verfolge ich stets interessiert. Dass dennoch mit der Zeit manches verloren geht, liegt auf der Hand, und auch vor diesem Hintergrund war es sehr aufschlussreich, sowohl sportliche als auch gesellschaftliche als auch politische Ereignisse nochmals vor Augen geführt, erläutert und eingeordnet zu bekommen. Dabei laufen die einzelnen Ebenen mitunter nebeneinander her, mit gelegentlich recht abrupten Themen- und Schauplatzwechseln, die einem Thriller zur Ehre gereichen würden; zum Teil werden aber auch von Anfang an die Querverbindungen zwischen Fußball bzw. ganz konkret der französischen Nationalmannschaft und der französischen Gesellschaft hergestellt. Besonders deutlich werden sie meines Erachtens etwa ab der Hälfte des Buches, wenn es verstärkt auf Knysna zusteuert und wenn der Autor, und damit der Leser, vielleicht auch schlichtweg von den Grundlagen profitiert, die im ersten Teil gelegt wurden.
Das Buch “Zidane schweigt” von Frédéric Valin ist im Verbrecher Verlag erschienen, und das, wie bereits erwähnt, ausschließlich elektronisch im Rahmen der neuen “Edition Elektrobibliothek” des Verlags. In dieser Reihe sollen künftig Romane, Erzählungen und Essais lebender Autorinnen und Autoren in ausschließlich elektronischer Form veröffentlicht werden. Ich habe keine Beziehung zu dem Verlag, bin aber Frédéric Valin bereits begegnet und schätze sein Werk sehr.
Eine andere Person, deren Werk ich sehr schätze, ist Herr Rebiger. Oder @rebiger, bei Twitter. Dieser Herr Rebiger hat sich zu meiner großen Freude und analog zur Weltmeisterschaft 2014 bereit erklärt, wiederum gemeinsam mit mir und interessierten Gästen das Turnier in Fünfzeilern zu begleiten: in der Doppelfünf.
Wir sind mit einer kurzen Historie der Europameisterschaften eingestiegen, haben dies und jenes kommentiert und zuletzt eine kurze Prognose zu den einzelnen Gruppen vorgelegt. Nun wird es Zeit, dass es losgeht, und wenn alles nach Plan läuft, sollte in den nächsten Wochen, Ausnahmen bestätigen die Regel, jedes Spiel der EM von mindestens zwei Leuten in je fünf Zeilen kommentiert werden. Vielleicht möchte ja jemand mal reinschauen und am liebsten auch noch mitreimen. Bei Twitter gibt’s uns unter @doppelfuenf2016.
Hier ein kleiner Vorgeschmack, ein Outtake sozusagen, der in der historischen Betrachtung einen Tick zu spät kam und unveröffentlicht blieb (die Sprachwahl ist hier dem Veranstaltungsort geschuldet, stellt aber eher die Ausnahme dar):
1996
Thanks to Shearer, they seemed on their way,
but Germany’s Kuntz countered: Nay.
Darren Anderton missed
So football (the twist!)
had come home, but the cup didn’t stay.
Als bei der Fußball-WM 1998 Gastgeber Frankreich Weltmeister wurde, initiierte Daniel Cohn-Bendit, damals Moderator der Schweizer Literatursendung »Literaturclub«, eine »Spezialsendung«, die dann tatsächlich einen Tag nach dem Endspiel ausgestrahlt wurde. Am Ort, an dem normalerweise über literarische Neuerscheinungen diskutiert wurde, lud der sicht- wie hörbar aufgewühlte Moderator vier Gäste ein, um über Parallelen zwischen Fußball und Politik und den vielleicht hieraus resultierenden Konsequenzen zu disku¬tieren. Cohn-Bendit führte die Runde zielgerichtet in eine Diskussion um ein Buch von Norbert Seitz mit dem Titel »Doppelpässe«. Der Titel ist doppeldeutig. Zum einen geht um den Doppelpass zwischen Fußball und Politik, zum anderen wird auf die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft angespielt, die Ende der 1990er Jahren in Deutschland für große Diskussionen sorgte. Verkürzt lautet die These des Buches, dass sich der Zustand und die politische Lage einer Gesellschaft (vulgo: Nation) in deren Fußballspiel spiegelt.
Da wurde, so die These, 1954 der Krieg für Deutschland in Bern nachträglich gewonnen – mit einer Mannschaft, die Trainer und Tugenden aus dem Dritten Reich übernommen hatten und nun praktizierten; diesmal spielte allerdings – im Gegensatz zu Stalingrad – das Wetter mit. 1974 wurde eine deutsche Mannschaft Weltmeister, die den gesellschaftlichen Aufbruch im Geist der Zeit verkörperte. Und 1990 gab es die »Energie« der Wieder¬vereinigung (Cohn-Bendit), die einer schlechtspielenden, aber durch die Ereignisse selbst¬bewussten Mannschaft den Titel brachte – und den damaligen Teamchef Franz Becken¬bauer zu der Aussage trieb, Deutschland werde nun auf unbestimmte Zeit unschlagbar bleiben (ein veritabler Trugschluss, der der Aura des »Kaisers« dann aber doch nichts anhaben konnte).
Für Cohn-Bendit als Anhänger der sogenannten Multikulti-Gesellschaft passte es auch 1998 zu schön: Die französische Nationalmannschaft war, so die These, das Spiegelbild der Einwanderungs¬gesellschaft Frankreich, die sich auch entsprechend als solche stolz präsentierte, mit Schwarzen, Nordafrikanern und den »blanc«, den Weißen. Hier entstand, so Cohn-Bendit, eine »Produktionskraft«, eine Energie. Die »integrative Mannschaft« reüssierte auf dem Spielfeld und machte so der Einwanderungsge¬sellschaft, die auch in Frankreich damals schon unter dem »Front National« politisch unter Druck stand, alle Ehre. Dagegen stand die hermetische Einwanderungsgesellschaft Deutschland, die ohne Türken und EU-»Gastarbeiter« spielte und sang- und klanglos im Viertelfinale gegen Kroatien auch noch als schlechter Verlierer ausgeschieden war. Die gesellschaftliche Blockade der Bundesrepublik, verkörpert durch Kohl, spiegele sich, so Cohn-Bendit, im Spiel der deutschen Mannschaft.
Im Angesicht des triumphalen Endspielsiegs Frankreichs (3:0 gegen Brasilien) verblasste dabei ein wenig das zähe Achtelfinalspiel gegen die defensiv-destruktive Mannschaft von Paraguay, die Frankreich erst mit einem Golden Goal besiegen konnte. Aber auch solche Einwände prallten ab: So sei er eben, der Fußball! Eine tautologische Erklärung; wie so oft, wenn nichts anderes mehr hilft. Vergessen auch das zähe Ringen mit Italien im Viertelfinale, dass erst im Elfmeterschießen für Frankreich entschieden wurde.
Bei entsprechender Auslegung wird man tatsächlich sehr viele zutreffende Punkte zu dieser These finden, was jedoch voraussetzt, die nicht stimmigen Beispiele entweder als Sonderfälle oder zu Ausnahmen zu deklarieren. Da wird dann etwas zusammengedichtet, was nicht immer ganz zusammenpasst. So passt es kaum auf die diversen Titel südamerikanischer Mannschaften (insbesondere Argentinien 1976 und 1982 – einmal Diktatur, dann Demokratie), die mit dieser These nicht zu erklären ist. Und es bleibt auch unklar, warum das in den 1960er Jahren untergegangene British Empire noch 1966 den WM-Titel schaffte. Schließlich: Deutschland errang noch 1996 die Europameisterschaft (wenn auch glanzlos).
Was die Diskutanten der Sendung 1998 natürlich nicht wissen konnten: 2000 wurde Frankreich Europameister (noch stimmt’s also). 2005 brannten dann in Paris die Vorstädte und trotzdem hatte ein Jahr später die équipe tricolore abermals die Chance, Weltmeister zu werden und unterlag unglücklich im Zidane-Kopfstoß- Endspiel gegen Italien. 2010 gab es dann dieses »Knysna«, diesen offenen »Putsch« in der französischen Nationalmannschaft gegen den Trainer. Der Multikulturalismus innerhalb der Mannschaft hat da nichts geholfen; vielleicht war unter dem selbstherrlichen Coach, der die Nachfolge des Meistertrainers angetreten hatte, eher das Gegenteil der Fall? Interessant finde ich, dass Valin dieses Desaster als »Geschenk für die politische Rechte« bezeichnet, während die Titelgewinne 1998 und 2000 nicht gleichfalls als »Geschenke« für die politische Gegenseite gesehen werden.
Die Erfolge Spaniens zwischen 2008 und 2012 kann auch schwerlich mit der politischen Situation des Landes in Übereinstimmung bringen. Was damals scheinbar gelang: Die unterschiedlichen ethnischen Differenzen (bspw. Katalanen, Basken) wurden für die Dauer des Turniers »vergessen«.
Die These, dass sich die politische und gesellschaftliche Verfassung einer Nation im Spiel und den Erfolgen wiederspiegeln, fand ich eine Zeit lang recht schlüssig. Die Titel Deutschlands 1972 und 1974 kann man mit der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung der sozial-liberalen Koalition (“mehr Demokratie wagen”) erklären. Aber 1980 und 1996? Beim näheren Draufschauen (auch bei den WM-Entscheidungen) entpuppt sich dieser Zusammenhang als etwas anfällig. Aber für flotte Schreibe ist das natürlich immer noch ein dankbares Feld.
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