“Total leidenschaftslos”, sagte der neben mir stehende Schalker mit gewissen Sympathien für den VfB. Er sagte es mit einer Verve, wie man sie wohl nur als Fan eines Malochervereins aufbringen kann, und auch wenn er nicht danebengelegen haben mag, war es mir doch ein Bedürfnis, auch meiner Wahrheit die Ehre zu geben: “Naja, in erster Linie schlecht, würde ich sagen”, und ich sagte es so, wie man es wohl nur als Fan einer grauen Maus sagen kann.
Der dritte Mann hielt sich zunächst noch bedeckt, sorgte aber wenige Minuten später, als ich eingedenk des von mir kurz vor dem Anpfiff ganz selbstverständlich prognostizierten Kantersieges die Frage stellte, wieso genau ich mich so sehr darauf gefreut hätte, “dass es endlich wieder losgeht”, für Erhellung:
“Man vergisst so schnell.”
Dem war wenig hinzuzufügen. Bis hin zu nichts. Hatte ich die Hinrunde, und insbesondere deren negative Ausprägungen, tatsächlich verdrängt? War ich wirklich der Ansicht gewesen, nur weil Moritz Leitner gegen Hannover drei Tore sehr ansehnlich vorbereitet hatte, sei nun das Kreativitätsvakuum im Mittelfeld gefüllt, seien Stabilität und Spielaufbau gleich mit geregelt? Hatte mir Konstantin Rauschs Tor in eben jenem Spiel gegen eine Mannschaft ohne Auswärtspunkt den Blick darauf vernebelt, dass er sich zwar häufig in vielversprechende Situationen, sie aber nur selten gut zu Ende, will sagen: in die Mitte bringt?
War Gotoku Sakais Lapsus in Wolfsburg, nein: waren all jene Lapsus, die er verlässlich immer dann einbaute, wenn man ihn auf einem guten Weg wähnte, meinem Gedächtnis entwischt? Hatte ich die Erinnerungen an Sven Ulreichs mintunter slapstickartiges Herauslaufen unterbewusst als Trugbilder verworfen, die Abstimmungsdefizite mit seinen Vorderleuten schlicht vergessen? Waren die Bilder von langen Bällen ins Niemandsland bereits verblasst, und hatte ich die bekannte Strategie ignoriert, dass, wenn man schon mit langen Bällen operiert, diese nach Möglichkeit von demjenigen schlagen lässt, der sie nun wirklich nicht kann, nämlich Ulreich?
Ach, man vergisst so schnell. Und freut sich jedes Mal von Neuem auf den Stadionbesuch, träumt von großen Leistungen und überzeugenden Siegen, von strategischem Geschick, defensiver Souveränität, junger Wildheit, individueller Klasse und furiosen Momenten, um dann einmal mehr enttäuscht zu werden. Gegen Mainz, exemplarisch. Einer Mannschaft zuzusehen, die minutenlang nicht in der Lage ist, den Ball aus einer lediglich geringen Drucksituation heraus geordnet in Richtung der eigenen Mittellinie zu spielen – bis der Gegner irgendwann nicht mehr davon absehen kann, einen dieser Fehlpässe in ein Tor umzumünzen.
Oder um Timo Werner dabei zu beobachten, wie er in all seinem wunderbaren Überschwang Stockfehler an Stockfehler reiht. Diesmal, wohlgemerkt, nur diesmal. Was man ihm ebenso gerne verzeiht wie Antonio Rüdiger den Drang, mangels zwingender Torchancen irgendwann selbst den Ball zu schnappen und wie dereinst Lúcio nach vorne zu preschen, wenn auch (noch?) weniger durchschlagskräftig. Und schließlich – ein “schließlich”, das sich auf meine Aufzählung bezieht, nicht aber auf die Reihe der Defizite –, um einer nominell wie individuell sehr ansehnlichen vierköpfigen Sturmreihe zuzuschauen, die unglücklicherweise nicht recht zu wissen scheint, was sie in Tornähe miteinander anfangen soll.
Tags darauf vergisst man wieder. Freut sich von Neuem auf den nächsten Stadionbesuch, träumt von einer großen Leistung und einem überzeugenden Sieg, meinetwegen auch einem Unentschieden, von einem Spiel mit Signalwirkung, auch mal gegen die beste Mannschaft der WeltTM, so wie damals, im Dezember 2008, Khedira, Sie wissen schon, und wird letztlich doch wieder enttäuscht.
Immerhin, dann: man vergisst so schnell.
Wahrscheinlich spielt mir meine Erinnerung einen Streich, schließlich ist der letzte Abstiegskampf so lange nicht her, aber ich war noch nie nach einem Spiel so desillusioniert wie nach dem letzten. Ich weiß nicht, gegen welche Mannschaft außer Braunschweig wir in der Rückrunde noch was reißen sollen. Man sollte meinen, Mannschaft und Trainer hätten im besten Trainingslager aller Zeiten die Fehler der Hinrunde aufgearbeitet.
Aber gerade nach dem Hinrunden-Alibi, dass Schneider erstmal mit der Mannschaft eine Vorbereitung absolvieren müsse, habe ich noch weniger Verständnis für Sakais unterirdisches Defensivspiel und seine Unkonzentriertheit, für Ulles unkontrollierte Abschläge und seine völlige Orientierungslosigkeit bei langen Bällen zwischen Viererkette und Torwart. Und das sind nur die beiden größten Samstagspflaumen, die mir in Erinnerung geblieben sind.
Es fehlt uns weiterhin an Führungsspielern auf dem Platz. Gente kann zwar schöne Reden schwingen, aber Autorität gegenüber seinen Kollegen scheint er nicht zu besitzen.
Aber ohne diese Art des Alzheimers würden wir doch alle nicht mehr ins Stadion gehen!
Hoffnung ist das einzige, was uns davon abhält!
@Florian Neumann: Hoffnung hin, Hoffnung her, wenn seit gefühlt (oder tatsächlich) 4-5 Jahren nach jeder Winterpause erzählt wird, wie fantastisch die Mannschaft mitgezogen hat, wie toll alles war, und wenn man dann gefühlt 3-4 mal vom Dargebotenen aufgezeigt bekommt, dass die Winterpause aufgrund mangelnder Enttäuschungen doch nicht so schlecht war, ist das alles ziemlich hoffnungslos, und zwar so hoffnungslos, dass man irgendwann nicht mehr vergessen will oder kann. Geht aber offenbar nicht nur mir so, wenn gegen Mainz nur knapp 40000 im Stadion waren. Aber anders als zu Zeiten Labbadias hab ich keinen Schimmer mehr, wen man denn nun auf die Bank setzen soll, wen man von den Jungen, von den Beinah-Ausgemusterten oder den ehemals Langzeitverletzten bringen soll…Ullreich raus, Gentner raus, Sakai raus (also aus der Startelf natürlich), bringt’s das wirklich? Ich glaube nicht (mehr) daran…
Könnte mal wieder ein bisschen Hoffnung gebrauchen, oder einen plötzlichen Gedächtnisverlust?
[…] Ein Herz für die sieglosen Blogger des Wochenendes: Heinz Kamke wurde beim Heimspiel seines VfB aus Träumen von junger Wildheit gerissen. Der Autor bei Vert et […]
@Lennart Sauerwald:
Was soll ich sagen außer: ja, der Frust saß und sitzt verdammt tief.
@Florian Neumann:
Stimmt, tendenziell. Leider. Aber ab und zu braucht diese Hoffnung, wie von trurll schön ausgeführt, halt auch ein bisschen Nahrung.