Vor zehn Tagen, nach dem Sieg gegen Mainz, stand ich vor dem Palast der Republik und wurde von Freunden gefragt, woher denn meine Euphorie rühre und ob ich etwa noch länger im Stadion geblieben sei, um die Mannschaft zu feiern? “Kurz”, sagte ich, und obschon mir klar war, dass eben diese Mannschaft nichts mehr getan hatte, als ihre Pflicht zu erfüllen, was die geneigte Leserin bitte nicht als moralische Bewertung verstehen möge, sondern als Einschätzung sportlicher Notwendigkeiten im Lichte der im Lauf der Saison (nicht) erzielten Ergebnisse und der sich daraus ergebenden Tabellensituation, war ich ein glücklicher Mensch.
Dabei hatte man grade mal die Mainzer geschlagen, für die es um nichts mehr ging, und so das Notwendige getan, um weiter auf den Klassenerhalt hoffen zu dürfen. Hinreichend war es nicht; es langte nicht einmal dazu, den letzten Platz zu verlassen. Und doch schwamm ich auf meiner ganz eigenen Euphoriewelle, war geneigt, das Fest zu feiern, wie es gefallen war, und fühlte mich genau richtig platziert, exakt dort, wo wir knapp acht Jahre zuvor glückselig gestanden hatten. Völlig absurd.
Nun, eine Woche später, stand das nächste Spiel an, diesmal gegen den HSV, einen direkten Konkurrenten, und vermeintlich ungleich herausfordernder – was angesichts des Umstands, dass der Sieg gegen Mainz lange Zeit keineswegs als ausgemachte Sache hatte gelten dürfen, eine durchaus belastende Aussicht darstellte. Dennoch war die Perspektive klar:
Ging dann ja auch recht gut los. Ballbesitz, Offensive, Einstellung, … der VfB machte vieles richtig, traf aber das Tor nicht. Das tat dafür der HSV, aus einer Standardsituation heraus, die als Blaupause für viele verheerende Stuttgarter Abwehrleistungen der ganzen Saison taugte, hätte man Zeit gehabt, sich lange damit aufzuhalten. Tatsächlich (eines meiner am häufigsten verwendeten Worte, wie ich jüngst mit Schrecken feststellte, als ich mir ein Weilchen zuhörte, aber das nur am Rande) war indes in der Folge der ganze Fan gefordert und hatte zwar angesichts einer kurzen Findungsphase der Mannschaft und entsprechend wenigen relevanten Geschehnissen auf dem Platz ein bisschen Zeit, um zu hadern.
Gleichzeitig jedoch ließ er, also der Fan, also auch ich, in seiner Unterstützung keinen Deut nach, im Gegenteil, und kam so in die angenehme Verlegenheit, die Anfeuerungs- schlagartig in Jubelrufe übergehen lassen zu müssen. Noch dazu doppelt, und wenn ich geglaubt hatte, die Intensität des erlösenden Jubels gegen Mainz sei nur schwer zu überbieten, so, nun ja, hatte ich wohl recht gehabt. Wesentlich intensiver wurde es auch gegen den HSV nicht, vermutlich gar nicht, aber man bewegte sich auf demselben Niveau. Bemerkenswert, wozu das “gewohnt kritische Stuttgarter Publikum”(TM) so in der Lage ist.
2:1 zur Pause, es folgten viele Chancen, von denen zwar keine in die erhoffte Befreiung mündete; es gelang jedoch, das Spiel weitestgehend in der Nähe des Hamburger Tores zu halten, wenn man von Djourous Torschuss aus 40 Metern und vereinzelten Hamburger Annäherungen an Ulreichs Tor absieht, von denen jedoch keinerlei wirkliche Gefahr ausging. Muss ja auch nicht, so ein Gegentor, beispielsweise aus einer Standardsituation, kann ja auch gerne mal aus dem Nichts kommen, wie das 0:1 gezeigt hatte. Also zitterte man, irgendwo, tief drinnen, und war gleichzeitig euphorisch ob des Tempos, der Dynamik, des Selbstvertrauens der Stuttgarter Spieler. Mal im Ernst: Wann hat Martin Harnik jemals einen schwierigen Ball so herunter- und mitgenommen wie in jener Szene, in der kurz darauf sein Querpass auf Daniel Ginczek einen Tick zu lommelig geriet und gerade noch von Johan Djourou abgefangen werden konnte? Genau: noch nie. Zumindest nicht in meinem Beisein.
Überhaupt, Harnik: man müsste eine Ode schreiben. Ich setzte schon einmal zu einer an, einige Ältere mögen sich erinnern, ließ mich dann aber vom Anblick schlanker Waden ablenken, und vermutlich würde ich auch heute wieder scheitern. Weniger an Waden als vielmehr am Gefühl, so viele Oden schreiben zu sollen. Ja, natürlich hätte Harnik eine verdient, wie so oft in den letzten Wochen, aber noch nie so uneingeschränkt, aber was wäre dann mit Kostic, auf den sich die Hamburger, wie zuvor schon die Mainzer, eigentlich ganz gut eingestellt zu haben glaubten: Ivo Ilicevic ging zu Beginn des Spiels im Vollsprint mit nach hinten, sobald der Ball auch nur in Kostics Nähe kam, doch auf Dauer, die eher kurz war, konnte oder wollte er das nicht durchziehen und überließ den Stuttgarter Linksaußen meist Heiko Westermann, der keinen ganz leichten Stand hatte und lange von Glück sagen konnte, dass Kostics Hereingaben zunächst verheerend waren. Man fühlte sich ein bisschen an Arjen Robben erinnert. Nicht weil Kostic ihm so ähnlich wäre, sondern weil der Gegner ein ums andere Mal nicht in der Lage war, die grundsätzlich vorhersehbaren Aktionen des Stürmers zu unterbinden.
Daniel Didavi nicht zu vergessen, natürlich, der dann auch zum rechten Zeitpunkt von Alexandru Maxim abgelöst wurde, um nicht Gefahr zu laufen, das Ergebnis nur mehr zu verwalten, oder Timo Baumgartl, den ich in der Vorwoche noch in der einen oder anderen Aktion als hektisch und nervös wahrgenommen hatte und der nun als Souverän neben dem Souverän Rüdiger wirkte: auch ihnen gebührte eine Ode, wäre ich nicht gedanklich schon wieder weiter, bei Christian Gentner, der den hintersten Hamburger Abwehrspieler ebenso regelmäßig unter Druck setzte wie deren vordersten Angreifer. Für die zweite Halbzeit besänge ich selbst Daniel Schwaab, gar Sven Ulreich, der das Spiel nie langsam machte. Und natürlich Serey Dié, diese Symbolfigur für das Selbstvertrauen, die Selbstverständlichkeit, die komplette Abwesenheit jeglichen Zweifels daran, dass das, was man grade tut, richtig ist und gelingen wird. Drüben im Vertikalpass weiß man das schon lange: Do or Dié hieß es dort bereits Anfang März, und dass man mehr Spieler von seinem Schlag benötige.
Nun bin ich zwar ganz froh, dass auch noch Spieler mit anderen Qualitäten auf dem Platz stehen, und Diskussionen über aggressive leader und Führungsspieler sind mir in aller Regel eher unangenehm; Serey Dié hat aber dafür gesorgt, dass ich nunmehr endlich in der Lage bin, das Jugendwort des Jahres 2013, das mich damals so unvorbereitet getroffen hatte, eindeutig zuzuordnen und mit Leben zu füllen: Dié ist das, was ich mir unter einem Babo vorstelle. (Was bestimmt schon mal jemand vor mir sagte.) Bleibt zu hoffen, dass er auch in Paderborn von seiner anfänglichen Unsitte, gerne mal ganz in der Nähe zu sein, wenn ein Gegentor entsteht, Abstand nimmt. Bildlich gesprochen.
Und dann wäre da noch eine Ode, die mir mindestens genauso sehr am Herzen liegt. Der eine oder die andere Hamburgerin wird das anders sehen, wie das halt so ist, wenn man den Kürzeren gezogen hat, aber ich wünschte mir eine Ode an Manuel Gräfe. Ich fand es ganz wunderbar, wie er von Anfang an vermittelte, dass er gewillt war, den Abstiegskampf auch als solchen zuzulassen. Spätestens nach zehn Minuten sollte jedem seine Zweikampfbewertung transparent gewesen sein, die eine gewisse fußballspezifische Körperlichkeit zuließ, ohne dabei Zweifel aufkommen zu lassen, dass es keine gute Idee wäre, den großzügigen Spielraum über die Maßen ausdehnen zu wollen.
Gewiss, über die eine oder andere Karte mehr hätte man sich beiderseits nicht beschweren können, und dass die Linie des Schiedsrichters den vielleicht nur dreiviertelherzig um den Sieg kämpfenden Hamburgern etwas weniger entgegenkam, will ich nicht von der Hand weisen. Dennoch bestätigte sich der Gedanke, den ich – weniger detailliert – bereits bei Bekanntwerden der Ansetzung gehabt hatte: ein mit manchem Wasser gewaschener Unparteiischer, der ein intensives Spiel zulässt, sofern es nicht unanständig wird, und der sich auch von Sperenzchen wie dem Freistoß heischenden Ballgrabschen nicht beeinflussen oder gar beeindrucken lässt – im Gegenteil:
“Sie glauben, Sie dürften den Ball in die Hand nehmen, weil Sie meinen, gefoult worden zu sein? Sie irren: Handspiel.”
Und das gleich doppelt. Aber das ist natürlich nur ein Nebenaspekt. Hauptthema ist die großzügige und berechenbare Zweikampfbewertung. Genug der Stichworte – wenn bitte jemand die Ode verfassen würde?
In Freiburg ist man bereits einen Schritt weiter. In der Tabelle, gewissermaßen, ganz konkret aber auch im Odenbusiness: der geschätzte Herr @zugzwang74 verfasste bereits in der vergangenen Woche “Eine Ode an den FC Bayern” und, was soll ich sagen? Sie hat gewirkt. “Sein” SC Freiburg schlug den Meister, dessen Saison bekanntlich vor einigen Wochen beendet war, der sich aber mit voller Kapelle redlich mühte, mit 2:1.
Das böse Wort von der Wettbewerbsverzerrung war schnell bei der Hand, was niemanden verwundern dürfte, der die Aussagen des Trainers und die letzten Ergebnisse noch im Ohr hat. Allein: Das Spiel gegen Freiburg, sein Verlauf, die Statistiken, … all das gibt diese Schlussfolgerung schlichtweg nicht her. Zumindest nicht dann, wenn man von einer bewussten Handlung ausgeht. Dass dennoch mancherorts ein Gschmäckle bleibt, hat der Primus inter Impares zum einen dem genannten Abgesang des Trainers auf die Liga zu verdanken, zum anderen seiner früheren Konsequenz in den letzten Saisonspielen, nicht zuletzt unter Jupp Heynckes.
Inwiefern? Nun, vor einigen Jahren hatte ich mich mit der Frage befasst, wie sich feststehende Meister denn so schlagen, wenn es für sie de facto um nichts mehr geht. Damals, 2011, stand Dortmund bereits als Titelträger fest, hatte aber unter anderem noch ein Spiel gegen Eintracht Frankfurt vor Augen, der mit dem VfB gegen den Abstieg kämpfte. Und so schrieb ich Folgendes:
[…] Weshalb ich mir mal angesehen habe, wie sich Längst-Meister in der Regel so schlagen. Demnach könnte der VfB von Glück reden, dass es sich bei besagtem Längst-Meister nicht um die Bremer handelt, die von ihren insgesamt sechs Spielen, die sie als feststehender Titelträger bestritten, sage und schreibe vier verloren: zwei im Jahr 1988, zwei weitere 2004. Nur der HSV ist, rein prozentual, noch schlechter, hat er doch seine einzige Partie als bereits sicherer Deutscher Meister im Jahr 1979 gegen die Bayern verloren. Besagte Bayern haben mit weitem Abstand die meisten dieser eher lästigen Spiele bestritten, nämlich 29. 20 Siege, 5 Unentschieden und 4 Niederlagen sind eine sehr respektable Bilanz. Eine hundertprozentige Siegquote haben Gladbach (3/3), Nürnberg (1/1) und, tada!, Dortmund: der Meister 2011 durfte am 34. Spieltag der Saison 1995/96 zum Schaulaufen antreten und schlug Freiburg 3:2. Folglich ziehe ich meine Bedenken zurück, auf Dortmund ist Verlass.
Das war, wie ich rückblickend feststelle, gar nicht mal so wissenschaftlich formuliert, aber die Aussage liegt auf der Hand: der FC Bayern, ein Ausbund an sportlicher Ernsthaftigkeit, auch im Erfolgstaumel. Diesen Eindruck bestätigte man nach zweijähriger Titelabstinenz in der Triple-Saison 2012/13, als der Titel so früh wie nie zuvor vergeben wurde und die Bayern sage und schreibe sechs Trainingsspielchen in der Bundesliga zu bestreiten hatten, von denen unter Jupp Heynckes fünf gewonnen wurden und eines unentschieden endete. Zusammengefasst: von 1969 bis 2013 bestritt der FC Bayern München 35 solcher Spiele, gewann 25, teilte sechs Mal die Punkte und verlor im positivsten Sinne bemerkenswerte vier Partien.
Bereits 2014 folgte auf die frühzeitigste Meisterschaft eine noch frühzeitigere, auch 2015 war man noch verdammt früh dran, und so standen weitere elf lästige Pflichtspiele an. Zehn davon sind bereits bestritten: 4 Siege, ein Unentschieden, fünf Niederlagen.
Den Grund für die zuletzt schwächeren Werte kenne ich nicht. Möglicherweise handelt es sich, laienhaft gesprochen, um eine statistische Delle, meinetwegen zufallsbedingt, oder um das Ergebnis übermäßiger Belastungen und ebensolchen Verletzungspechs, eventuell hat die Geisteshaltung des Trainers damit zu tun, vielleicht trainieren sie nicht genug, und möglicherweise sind die euphorisierten Meister auch schlichtweg zum falschen Zeitpunkt auf richtig starke Gegner getroffen. Wahrscheinlich werde ich, und nicht nur ich, die Frage nach den Gründen nie beantworten können, aber sie zu stellen halte ich für legitim.
So ähnlich, wenn auch mit einem kleinen Fehler, den bis dato niemand angeprangert hat, sagte ich das übrigens vor ein paar Tagen auch im Rasenfunk. Rasenfunk, Sie wissen schon, dieser Fußballpodcast mit dem wunderbaren Moderator @GNetzer, der sich gerne Gäste einlädt und mit ihnen nicht nur über Fußball spricht, sondern das Ganze auch noch poetisch aufbereitet. Sollte ich so etwas zur Gewohnheit machen wollen, also dieses öffentliche Reden, sollte ich vermutlich meine Infrastruktur aufrüsten, um künftige Hörer davon abzuhalten, meine Stimme als einem Volksempfänger entstammend zu bezeichnen. Nun denn.
Wie gesagt, ich sprach dort primär über den VfB nach dem HSV-Spiel, vergaß aber die ganzen Oden, und durfte dann auch noch ein bisschen über die Bundesliga reden, beispielsweise eben über den Negativlauf des FC Bayern. Und, ganz kurz, darüber, dass ich mir das alles anders vorgestellt hatte. Dass ich zwar nicht mit einem Schalker Sieg gerechnet, den beiden bayerischen Bundesligisten aus München und Augsburg aber doch etwas mehr zugetraut hatte in den Duellen mit Stuttgarter Konkurrenten. Damals, am Samstagnachmittag, nach dem HSV-Spiel, Sie erinnern sich. Und so lagen meine zuvor formulierten Pläne wenige Stunden später in Trümmern:
Ja, ich war und bin besorgt. Was mir im Rasenfunk einen Uwe-Seeler-Vergleich einbrachte. Und dann auch noch einen mit Matthias Sammer. Da geh ich nicht mehr hin. Ist eh zu profan.
Doch ernsthaft: ich bin nervös. Mache mir tatsächlich seeleresk Sorgen. Nicht um den relegationsgestählten HSV, wohlgemerkt, sondern um den VfB, der zuletzt so beeindruckend gespielt hat und doch darauf angewiesen ist, bei den Paderbornern, die gegenwärtig wohl auch tröstende Oden fürchten, geschriebene wie noch ungeschriebene, für die sie sich gegebenenfalls nichts kaufen können, wenn es denn doch nicht reichen sollte, was ich ihnen leider wünschen muss.
Ganz nebenbei versuche ich übrigens meinen Aberglauben zu verdrängen, demzufolge sich die Ehrenrunde, die die Mannschaft am vergangenen Samstag nach dem Spiel, als außer selbigem nichts gewonnen war, absolvierte, nachgerade als böses Omen aufdrängt. Fällt mir nicht leicht. Eine Ode an die Gelassenheit, das wär’s jetzt.
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