Es ist mir ein bisschen unangenehm, die Anwesenden mit Toilettengedanken zu belästigen. Aber dort nahm das alles seinen Anfang. Dort hätte ich stutzig werden sollen. Als sich ein Mann fröhlich pfeifend, ich bitte um Verzeihung für die Detailtiefe, ans Nachbarurinal gesellte und ich “My oh My” von Slade zu erkennen glaubte. War ich in einer Zeitschleife gelandet? In den frühen Achtzigern? Wie hatte der junge Mann von so einem alten Lied gehört? Konnte das überhaupt wahr sein? Sollte ich nicht vielleicht doch nach Hause fahren und mir eine Decke über den Kopf ziehen?
Gleichzeitig waren jedoch all meine Zweifel verschwunden, ob jene Menschen, die kurz zuvor mit lustigen Hüten oder bunten Federn auf dem Kopf Après-Ski-Atmosphäre ins Neckarstadion gezaubert hatten, vielleicht doch nur ein Produkt meiner Fantasie gewesen seien – was nicht nur aus persönlicher Sicht eine gewisse Erleichterung auslöste, sondern ob der jungen und ungezwungenen Wildheit der Protagonisten, gepaart mit einer Prise schwäbischer Bodenständigkeit (“”VfBe-he, isch des schee-he”), auch einmal mehr das Selbstverständnis des Vereins ganz wunderbar illustrierte.
Ein Selbstverständnis, in dem ich mich derzeit nur sehr schwer wiederfinde. Das von Lippenbekenntnissen geprägt ist, sowohl beim sportlichen Konzept als auch im Umgang mit den Fans, ein Selbstverständnis, das einer ebenso organisierten wie unverschämten Schwarzmarktabzocke namens Viagogo einen Ehrenplatz einräumt, ein Selbstverständnis, mit dem es vereinbar scheint, auf leere Ränge im Europapokal mit noch etwas stärker gesalzenen Preisen in der nächsten Runde zu reagieren, und ja, ich gebe meine Befangenheit gerne zu, ein Selbstverständnis, dessen Protagonisten nicht zuletzt Gerd E. Mäuser und Bruno Labbadia heißen. Möglicherweise zöge ich dann doch die jungen Wilden von Tekilla vor. Oder Frontal Party Pur, die Sladehuldiger.
Wie auch immer: ungeachtet meiner Toilettenzweifel blieb ich vor Ort. Die Erwartungen waren ja ohnehin überschaubar. Man wusste schließlich um die übermenschlichen Strapazen, denen die Stuttgarter Spieler ausgesetzt gewesen waren, die nach weniger als zwei Tagen (vielleicht mit entsprechender verbaler Begleitung?) gar nicht anders konnten, als die beschwerliche Reise nach Genk noch immer in den Knochen zu haben. (All denjenigen, die wider alle Wahrscheinlichkeit nicht darum wussten, seien Bruno Labbadias Einlassungen zur Wettbewerbsverzerrung im modernen Fußball ans Herz gelegt.)
Um indes der Wahrheit die Ehre zu geben: der VfB hat schon schlechter gespielt diese Saison. Deutlich schlechter. Besser auch, aber darum soll’s jetzt gar nicht so sehr gehen. Es war ein Spiel zweier durchschnittlicher Mannschaften, die – nicht nur dank zweier in der Regel funktionierender Abwehrreihen – kaum Torgefahr ausstrahlten, und von denen erst die eine, dann die andere eine gewisse Unordnung beim Gegner ausnutzte. Natürlich hätte der VfB den viel zitierten, möglicherweise längst ein wenig ausgeleierten Sack zumachen können, vielleicht müssen, aber dafür war man in den Angriffsaktionen letztlich nicht konsequent, nicht präzise, nicht glücklich genug.
Und weil das Spiel dann doch ein wenig plätscherte und sich nur zwischen und selten in den Gefahrenzonen abspielte, war zumindest die Gelegenheit gegeben, Raphael Holzhauser (hier gemeinsam mit Harnik aus österreichischer Sicht betrachtet) nach längerer Zeit mal wieder etwas genauer auf die Füße zu schauen – mit, unter anderem, der Erkenntnis, dass er zweimal zu einer Grätsche ansetzte. Hatte ich zuvor nicht von ihm gesehen, vielleicht ist da ein Prozess im Gange. Dass er für die eine der beiden Aktionen durchaus hätte verwarnt werden können, dürfte für einen eleganten Offensivspieler, der am liebsten mit einem Kontakt spielt und die vermeintlichen Niederungen des defensiven Handwerkszeugs erst noch verinnerlichen muss, nicht ganz untypisch sein; immerhin verhinderte er damit einen Konter, und auch bei der zweiten Grätsche gelang die Abwehraktion.
Tatsächlich ging gar der Ballgewinn vor dem Führungstreffer auf Holzhausers Konto, der dann noch zweimal kurz am Ball war, ehe Traoré Harniks gelungenen Versuch vollendete. Doch so wichtig Holzhausers Defensivnachbesserung auch ist: das Herz geht mir in der Offensive auf. Wenn er am Sechzehner nicht abzieht oder den Doppelpass mit Gentner spielt, sondern auf Ibisevic weiterleitet – der, so mein etwas überraschender Eindruck, gar nicht damit gerechnet hatte. Oder wenn er sich mit drei oder vier Zwei-Meter-Pässen aus einer engen Situation herausspielt und sich so, für den unbedarften Zuschauer eher unvermittelt, Platz geschaffen hat.
Genug von Holzhauser. Hatte ich übrigens auch am Samstag nach einer guten Stunde, als sein Spiel ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet: zwar lief er jeden Konter mit (ohne sich dabei wesentlich geschickter anzustellen als die Kollegen); nach hinten aber fehlten, für den interessierten Beobachter unverkennbar, Kraft und Tempo. Der Trainer interessierte sich etwas weniger ging das Risiko ein, die Mannschaft wurde mit dem Ausgleich bestraft, Holzhauser hatte Feulner nicht folgen können. My oh my.
Wer übrigens zu jung ist, sich an das Stück zu erinnern, dem sei eine kurze Suche in den Tiefen des Netzes ans Herz gelegt. Bzw. ich bin schon mal in Vorleistung gegangen und hab’s ausgegraben (war doch 1983, oder?):
[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=LpzRAyIVsBs&showinfo=0&t=2m44s]
Verzeihung. Muss mein Selbstverständnis überdenken.
Und bei den nächsten Toilettenzweifeln einfach heimgehen.
Wie immer ein Amüsement, das seinesgleichen sucht, Deine Zeilen zu lesen. Zum Urinalhit möchte ich anmerken: Es könnte sich natürlich auch um die HSV-Variante gehandelt haben. “Wir sind schlau, wir sind Fans vom HSV” mag dem jungen Herrn bekannter sein als “My oh My”. Gepfoffen klingt’s ja gleich.
Danke schön. In der Tat war ich bei einer kurzen Recherche auch über die HSV-Version gestolpert. Hier ward aber, und das wird aus meinen obigen Zeilen nicht deutlich, mit hoher wahrscheinlich weder die HSV- noch die Slade-Hymne gepfoffen, sondern diese im Rahmen des, jetzt schäme ich mich ein bisschen, VfB-Stadionsongcastings.
Angesichts dieser gelungenen Komposition und deren Ursprungsort wäre ich doch recht erpicht darauf, zu erfahren, welche Gedanken dem Autor an Orten kommen, welche explizit zum Nachdenken geeignet sind. Zum Beispiel in einer Hängematte oder aber beim Warten auf die U-Bahn, so der Herr überhaupt ÖPNV-Nutzer ist.
Made my Mitternacht.
[…] ist bestimmt nicht fair nur einzelne Teile aus Heinz-Kamke-Texten zu zitieren, aber es immer wieder eine Wonne zu erfahren, wie man von teils abstrusen […]
Trainer, das Problem mit diesen Orten, die explizit zum Nachdenken gedacht sind, ist die dortige Anwesenheit von Mobiltelefonen, die das Nachdenken (hier folgt ein gesellschaftskritischer Hinweis) leider allzu sehr in den Hintergrund rücken lässt – zumindest, soweit es den auch hier gerne genutzten ÖPNV anbelangt. In Hängematten indes würde ich, so ich eine mein Eigen nennen dürfte, vermutlich Bücher lesen, was mal mehr, mal weniger nachdenkenswert und -kompatibel ist. Bleiben also öffentliche Räume ohne Mobilfunkempfang. Wie der im Text genannte.