Weltelf

Der ORF hatte damals schon den Sportnachmittag. Sonntags, meist in FS2, wurde einfach durchgehend Sport gezeigt, was im deutschen Fernsehen – anders als heute – noch ziemlich undenkbar war. Die privaten Fernsehsender steckten bestenfalls in den Kinderschuhen, im Grunde noch nicht einmal das, ARD und ZDF waren der Vielfalt verpflichtet und konnten nicht den ganzen Sonntag mit Sportübertragungen füllen, aber man wohnte ja grenznah.

Im Winter lag der Fokus beim ORF natürlich auf dem alpinen Skisport, Harti Weirather war der erste Abfahrtsweltmeister, dessen Siegfahrt ich aktiv verfolgte, Annemarie Moser-Pröll fuhr nicht mehr, schwebte aber als Schatten über allen Damenrennen. Armin Kogler und Hubert Neuper bestimmten das Skisprunggeschehen mit, Neuper gewann zweimal die Tournee, und die Vögel konnten bereits erahnen, dass sie bald zu Fuß gehen würden. Die Biathlonbegeisterung hielt sich noch in Grenzen, Österreich hatte meines Wissens keinen Angerer, Kvalfoss oder Rötsch. Dafür sah man auch einmal Parallelslaloms der Profis – der olympische Gedanke trennte noch immer die guten von den bösen Skifahrern, ein Jahrzehnt nach der Causa Schranz – manchmal auch Skibobrennen, von denen ich nicht glaube, dass sie jemals im deutschen Fernsehen liefen, oder gar Eisstockschießen. Und wenn überhaupt nichts mehr ging, war da ja immer noch Fußball aus der Wiener Stadthalle.

Auch im Sommer gab es den Sportnachmittag. Gefühlt nicht ganz so häufig wie im Winter, oder zumindest nicht so lange am Stück. Oder es lag daran, dass ich sommers selbst häufig auf irgendwelchen Sportplätzen unterwegs war. Wenn nicht, sah ich im ORF Formel 1, nach Niki Laudas Rückkehr 1982. Ich verfolgte den Einzug der Tankstopps und Piquets Prügel für Salazar, erlebte später Laudas erneuten Titel und seine Duelle mit Alain Prost mit, beide im  McLaren-TAG-Porsche-Turbo, und stelle rückblickend fest, dass das wohl die einzige Phase meines Lebens war, in der ich mit einer gewissen Regelmäßigkeit Motorsportwettbewerbe verfolgte, nicht nur im ORF. Walter Röhrl beherrschte Monte Carlo, Toni Mang die 250er und 350er, und Boris Beckers Sieg gegen Kevin Curren erlebte ich gar als Zuschauer eines Motocross-Rennens – schlechtes Timing.

Doch zurück zu den Sportnachmittagen in FS2: manchmal gab es tatsächlich auch den mir persönlich wichtigsten Sport zu sehen, aus dem aus deutscher Fernsehsicht recht exotischen Fußballland England. Dort wurde damals, wer wüsste es nicht, der erfolgreichste Fußball gespielt, zwischen 1977 und 1984 konnte nur der HSV 83 die Dominanz der englischen Teams durchbrechen. Kevin Keegan hatte in Deutschland gespielt, Tony Woodcock auch, aber ansonsten kannte man den englischen Fußball in Deutschland, besser: bei uns in der Provinz, nur von der Nationalmannschaft, die sich allerdings bei den internationalen Turnieren ein wenig rar machte, und aus dem Europapokal. Genau wie den spanischen oder italienischen, übrigens, schließlich war die Bundesliga ja die beste der Welt, das Maß der Dinge, zudem waren wir uns im Klaren darüber, dass die Eurogoals noch ein paar Jahre auf sich warten lassen würden.

In Österreich indes war man interessierter und zeigte immer mal wieder Spiele aus der First Division, nicht live, aber doch in nennenswertem Umfang. Eines Sonntags, ich vermute zumindest, dass es ein Sonntag war, wurde eine Partie von Sheffield Wednesday übertragen. Ich hatte bereits ein oder zwei Jahre Englisch hinter mir und fand den Vereinsnamen unglaublich lustig. Der österreichische Reporter kam aus dem Schwärmen nicht heraus, und das Objekt seiner Begeisterung hieß Imre Varadi. Imre wer? Imre Varadi, englischer Spieler mit ungarischen Wurzeln (wobei ich noch heute der Überzeugung bin, dass ihn der österreichische Kommentator durchgängig als Ungarn bezeichnete), der sich später als Wandervogel einen Namen machen sollte, oder wie es die Wikipedianer formulieren:

“Varadi went on to become a nomadic journeyman, who rarely spent more than two years with any club and never made 100 league appearances in the colours of any team he played for.”

Wie auch immer: an diesem Tag beeindruckte Varadi nicht nur den Kommentator, sondern auch mich – anhand total aussagekräftiger Ausschnitte aus einem einzigen Ligaspiel – so sehr, dass er fortan eine ganze Weile einen festen Platz in meiner Weltelf hatte. War das damals nur bei uns en vogue, oder hattet Ihr auch Weltelfen?

Irgendwann war aus der Berichterstattung über das Benefizspiel einer “Weltelf”, die natürlich alles andere als eine nach rein sportlichen Kriterien (vermutlich eher nach Verfügbarkeit, aber an so etwas dachten wir damals nicht) zusammengestellte Weltauswahl gewesen war, bei uns allen der Drang entstanden, in regelmäßigen Abständen unsere Weltelfen aufzustellen. Und wenn ich “uns alle” sage, dann meine ich in erster Linie meine Mitschüler, von denen die meisten insofern ein wenig benachteiligt waren, als ihr Vater weder den Kicker abonniert hatte, der auch schon damals zumindest am Rande über die internationalen Ligen berichtete, noch gemeinsam mit dem Sohnemann jede Gelegenheit wahrnahm, irgendein Fußballspiel anzuschauen. So hatten sie also zum Beispiel noch nie von Imre Varadi gehört, einem meiner Trümpfe.

Ansonsten fanden sich in den Aufstellungen die üblichen Verdächtigen. Rummenigge, natürlich, Maradona sowieso. Weil Schuster auch dabei war, schaffte es Platini eher selten ins Team. Hellström wurde gerne mal nominiert, auch Scirea und Boniek, der eine oder andere Brasilianer, wobei auch da der Hang zur Distinktion ausgeprägter wurde: man nahm dann nicht die offensichtlichen Zico oder Falcão, sondern Junior (vollkommen zurecht) oder gar Eder.

Es versteht sich von selbst, dass der Auswahlprozess ein sehr komplexer war. Neben Lebenswerk, aktuellen Leistungen und natürlich auch Potenzial spielten mitunter in seltenen Fällen auch Sympathien eine Rolle – wie sonst hätte sich zum Beispiel Ronald Koeman phasenweise einen Platz in meinem Team erkämpft? Oder Paolo Rossi, Spielverschieber und Finaltorschütze, der 1982 hoch im Kurs stand? Später kam Scifo, den ich tatsächlich sehr mochte, dann die Lobanowsky-Schützlinge wie Kusnezow, Belanow, Sawarow und nicht zuletzt Michailitschenko. Die Tore schoss Varadi, klar, auch wenn ich nicht ausschließen kann, dass er bei objektiver Betrachtung gar nicht der Allerbeste auf seiner Position war.

Heutzutage erstelle ich keine Weltelfen mehr. Ich bin zu schlecht informiert, um mich abzuheben, das Scouting der anderen ist zu gut, das Fußballgeschehen zu transparent. Naja, eigentlich ist das kein Grund, schließlich dürften selbst bei vollkommener Information bei 10 Leuten 10 verschiedene Weltelfen herauskommen. Dann wird’s wohl am Alter liegen, und an den Prioritäten.

Kürzlich jedoch entspann sich, wie das im Urlaub halt manchmal so ist, eine kleine Diskussion über Fußball. Über einzelne Spieler. Konkret: über Spieler, die man nicht mag. Oder nicht mochte. Aus welchen Gründen auch immer, manchmal mag es nur an einer einzigen Szene gelegen haben, oder an einer generellen Fallsucht, vielleicht auch nur an einem dummen Interview oder an etwas, an das man sich nicht einmal mehr erinnert.

Wie auch immer: es entstand mal wieder eine ganz persönliche Weltelf. Generationenübergreifend, und doch nur eine Momentaufnahme – nächsten Monat sieht sie schon wieder anders aus. Zum Teil.

Weltelf, leistungsunabhängig, aber sympathiefrei:

Und Ihr so?

0 Gedanken zu „Weltelf

  1. Kahn – Rafinha, Santana, Wolf – Jarolim, van Bommel, Effenberg, Frings – Kiessling, C. Ronaldo, Gomez
    Trainer: Klopp
    Irgendwie (fast) alles aktuelle Spieler, ich bin wohl nicht nachttragend 😉

  2. So, ich hab das Prinzip jetzt sogar auch verstanden und meinen Artikel dementsprechend abgeändert.

    Aber Deine Mannschaft hat ja gar keinen Trainer. So geht das nicht!

  3. Erstaunlich wie viele Spieler man findet, die einem auf und/oder neben dem Platz unsympathisch sind. Ich gehe mit einigen D’accord aber ich vermisse ja eindeutig einen gewissen italienischen Mittelfeldspieler der mit G anfängt und mit uso aufhört in den Listen. Mir fallen dann noch Frank Rijkaard und Sergio Pinto ein.
    Und seit meiner Kindheit finde ich den Hoffnungsvernichter von ’86 Burruchaga irgendwie unsympathisch

  4. @Horscht:
    Und ob das reicht! 😉

    @Pleitegeiger, Stadtneurotiker:
    Haut rein, ich freu mich drauf.

    @Mahqz:
    Bayer 04 Allstars? Ist das so eine Ansammlung von Unsympathen?

    @Jens:
    Die brauchen keinen Trainer. Sind untrainierbar…

    @danbreit:
    Burruchaga schoss mir auch kurz durch den Kopf, aber dann musste ich mir eingestehen, dass ich ihn eigentlich mochte.

  5. Mir geht es anders als danbreit, ich komme gerade auf eine Handvoll neben ganz, ganz weit verbreiteten Kandidaten (van Breukelen, Cristiano Ronaldo, Matthäus), weshalb ich leider nicht teilnehmen kann.

    Es ist natürlich Geschmackssache, insofern lässt sich vorzüglich streiten. Wie man aber Chapuisat unsympathisch finden kann …

    Dann seh ich aber beim Lesen, dass ich stadionchecks Liste fast unterschreiben könnte. Was dann wiederum eine eigene Weltelf zusammenzustellen überflüssig macht.

  6. @Trainer Baade:
    Du brauchst nicht “leider” zu sagen – es hätte mich sehr gewundert, wenn Du bei sowas mitgemacht hättest.

    Grundsätzlich bin ich auch eher bei Dir als bei danbreit, was die vielzahl der Unsympathen anbelangt, und nach den initialen drei oder vier Namen musste ich schon ein Weilchen überlegen. Auch weil bei mir nicht wenige der üblichen Verdächtigen wie C. Ronaldo, Matthäus, van Bommel oder neuerdings Großkreutz eben gerade nicht zu den Kandidaten zählen.

    Dafür halt Chapuisat. Tja.

  7. Sagen wir so im Endeffekt habe ich auch nicht mehr Namen geschrieben als der Trainer 😉
    Und bei mir sind das dann meistens die Aktionen die ich verabscheue und nicht die Personen, die ich ja auch nicht persönlich kenne. Wenn ein Boulharouz, Gattuso oder früher Keane wiederholt bei ihren Abwehraktionen auf die Gesundheit seiner Gegenspieler pfeift macht ihn das nicht gerade sympathisch.

  8. Ja, alle die ich bei uns nie habe sehen wollen. (Simak…) Okay hätte auch was. Vielleicht mach ichs noch. Bei anderen Vereinen habe ich irgendwie gefühlt keine… Weiß auch nicht warum.

      1. Weniger, als wenn mein Weltelf-Trainer selbst entscheiden dürfte. Zumindest phasenweise internationale Klasse, aber eben weit weg von Sympathieträgern, dachte ich.
        In meiner Bild-Bundesliga-Elf darf Herr Lahm natürlich auch noch seine Freunde Ottl, Basler und Badstuber mitnehmen.

  9. Aumann – Salihamidzic, Kostner, Baresi, Roberto Carlos – Effenberg, Nachtweih, Basler, Di Livio – Herrlich, Kruse

    Ersatzbank: Kahn, Lehmann Illgner, Pfaff, Higuita

  10. Oh, das ist mal eine Ersatzbank. Da kann man nur hoffen, dass Herrlich und Kruse, vielleicht auch Effenberg oder Basler treffen, und man nicht selbst einem Rückstand hinterherlaufen muss…

    Und endlich noch jemand mit di Livio.

    [Wieso Dein Kommentar in der Moderation gelandet ist, weiß ich nicht, sorry.]

    1. Es gibt ja so ein paar negative Dinge, die man dem italienischen Fußball gerne mal zuschreibt. Zum Teil ist das gerechtfertigt, zum Teil auch nicht. Aber in den Momenten, in denen ich es für gerechtfertigt halte, habe ich als erstes di Livio vor Augen. Meckernd, auf Zeit spielend, provozierend, auch mal fallend (auch wenn er da sicher nicht als erster Vertreter zu nennen ist), vielleicht auch zu erfolgreich im Messen mit deutschen Mannschaften, einmal auch ein in meinen Augen unsympathisches Interview führend.

      Das ist vage, und doch hat es sich bei mir schon sehr früh verfestigt. So ist das halt manchmal mit Sympathien und deren Gegenteil…

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