Pflichtgelb!

Käme ich aus irgendeinem Grund in die Verlegenheit, eine Antwort auf die Frage geben zu sollen, welcher Bundesligaspieler bei mir die stärksten Begeisterungsstürme auslöst, dann wäre Mario Götze zweifellos in der allerengsten Auswahl. Was vermutlich nicht in den Ruch einer exklusiven Meinung geraten dürfte. An Superlativen mangelt es nicht, an Vergleichen mit Größen von gestern und heute ebenso wenig, und wer ihm ein Weilchen zusieht, hat nicht nur – so er oder sie sich der Schönheit des Spiels verschrieben hat – ein bisweilen recht widerstandsfähiges Lächeln auf den Lippen, sondern vergisst auch gerne mal, dass er (oder noch immer auch sie) einem 20-Jährigen zusieht, der sich seiner überragenden Fähigkeiten sehr wohl bewusst ist, sie aber in den seltensten Fällen um ihrer selbst willen einsetzt, sich eben nicht an sich selbst berauscht, sondern diese Fähigkeiten bemerkenswert zielstrebig in den Dienst seiner Mannschaft stellt.

Vermutlich ist es in ganz besonderem Maße die Neigung (und die Fähigkeit), einfache Lösungen zu wählen, die mich an seinem Spiel begeistert. Ob das nun daran liegt, dass die Lösungen tatsächlich so einfach, mitunter schlicht sind, oder eben doch daran, dass sie nur dem Ausnahmespieler leicht fallen, nur von seinesgleichen auf das Notwendige reduziert umgesetzt werden können, der zudem weiß, dass seine Geniestreiche (sic!) nicht mit Schleifchen oder sonstigem Beiwerk verziert zu werden brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.

Mir ist klar, dass diese Einschätzung beim einen oder der anderen Widerspruch hervorrufen muss. Zu außergewöhnlich wirkt Götzes Spiel mitunter, zu spektakulär sind die Aktionen, an denen er häufig entscheidend beteiligt ist, auch wenn es nur eine Reihe von Flachpässen ist, die gerade wegen ihrer Einfachheit … oh, da habe ich mich verrannt. Ernsthaft: natürlich hat er spektakuläre Einzelaktionen drauf, und auch drin, in seinem Spiel. Die beeindrucken mich dann auch.

Nachhaltiger wirken auf mich indes die kleinen Aktionen, wie jener rasche Querpass an der Außenlinie, der in seinem ersten (?) Länderspiel dem Mitspieler unvermittelt einen riesigen, mir selbst bis dahin komplett verborgenen Raum eröffnete. Dass ich Sekundenbruchteile später an Uwe Bein und jene kurze Ballstafette zurückdachte, die sein linker und sein rechter Fuß im Stand vollführten, um dann den Mitspieler mit einem schnöden Dreimeterpass allein in Richtung Tor zu schicken, ist gleichermaßen hoch gegriffen wie, aus meiner Sicht, angemessen.

Und dabei bin ich noch nicht einmal darauf eingegangen, wie souverän ich ihn abseits des Spielfeldes wahrnehme. Ohne den Müller’schen Schalk, gewiss, aber eben auch ohne die Standardplattitüden, die wir alle kennen. Einfach wie ein ernsthafter und nicht ganz auf den Kopf gefallener junger Mann, der zufällig ungewöhnlich gut Fußball spielen kann.

Genug der Lobhudelei. Die nicht dazu dienen sollte, die Fallhöhe zu maximieren – zum einen liegt es weder in meiner Macht, ihn zu erhöhen noch ihn fallen zu lassen, zum anderen will ich ihn keineswegs fallen sehen. Es ist nur so, dass ich ihn manchmal nur ganz schwer ertragen kann. Zunehmend häufig, um genauer zu sein. Was wenig bis nichts mit den Schlagbewegungen zu tun hat, die er Georg Niedermeier am vergangenen Sonntag nicht nur in der einen, öffentlich ausführlich diskutierten, Szene Mitte der zweiten Halbzeit angedeihen ließ, sondern eben auch schon, so meine Wahrnehmung in Echtgeschwindigkeit, in der ersten Hälfte. Nicht schön, eher ärgerlich; allerdings habe ich angesichts dessen, was er häufig einstecken muss, einiges an Verständnis dafür übrig. Weitere kleine Schwäche meinerseits.

Dass er mich mitunter furchtbar nervt, hängt auch nicht damit zusammen, dass er ein wenig Gefahr zu laufen scheint, gelegentlich seinen beiden Vorturnern an und auf der Linie nachzueifern – wobei “auf” der Linie insofern nicht so ganz stimmt, als der Dortmunder Torwächter seine Mission, bei jedem Pfiff des Schiedsrichters mindestens dreißig Meter aus dem Tor zu stürzen, in aller Konsequenz umsetzte. Kann man natürlich machen; mir war’s eher unsympathisch. Was aber, so ehrlich will ich gerne sein, daran liegen mag, dass ich Roman Weidenfeller noch nie mochte. Schon damals in Kaiserslautern war er stets etwas mehr Gerry Ehrmann, als ich für angenehm und angemessen hielt, und im Lauf der Jahre blieb er für mich, insbesondere abseits des Platzes, das Gesicht jener Torwartschule, mit bekanntem zwischenzeitlichem Tiefpunkt.

Was übrigens nichts daran ändert, dass er ein vorzüglicher Torwart ist. Wie er den Kopfball von Niedermeier (?) gleich zu Spielbeginn von der Linie wischte, nötigte mir großen Respekt ab. Wie übrigens auch das Spiel des VfB, den ich spielerisch seit langem nicht so gut, nicht so vielseitig sah wie gegen Dortmund – woran Alexandru Maxim nicht ganz unschuldig war. Auch seine Mitspieler machten deutlich, dass sie, dass wohl auch der Trainer es ernst gemeint hatte mit der Ankündigung, wieder besseren Fußball spielen zu wollen. Dass sie dabei mit der nötigen Aggressivität aufgetreten sind, begrüße ich. Dass sie dabei gelegentlich mit unnötiger Aggressivität aufgetreten sind, missfiel mir. Missfiel mir übrigens auch, obschon seltener gesehen, bei Dortmundern.

Doch zurück zu den Stuttgartern und ihrem fußballerisch unerwartet guten Auftritt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es könnte ihnen ähnlich gegangen sein wie mir. Wie es mir ging? Nun, ich fühlte mich, wie soll ich sagen, gelöst. Ja, gelöst trifft es wohl am besten. Natürlich ist das Problem mit dem Kopf und dem Gestank noch nicht gelöst, und zweifellos ist Herrn Professor Hundt zuzutrauen, den VfB in der Präsidentenfrage von der Traufe in die Traufe zu führen; meine Stimmung hat sich im Lauf der Vorwoche gleichwohl extrem verbessert, möglicherweise könnte man von einer Art Aufbruchstimmung sprechen, bei mir, und vielleicht auch bei den Spielern. Wollen halt auch nicht ständig angeblafft werden. (Was in diesem Fall nichts mit Herrn Weidenfeller zu tun hat.)

Ob der VfB wirklich so gut war, wie ich glauben will, weiß ich nicht so recht. Die Vereinsbrille vernebelt dann ja doch ein wenig den Blick. Möglicherweise war es auch ihr geschuldet, dass ich Niedermeiers gelbe Karte für falsch hielt. Wie übrigens auch der kicker, den ich aber nicht als Kronzeugen aufführen möchte, sondern lediglich als eine Stimme unter vielen, einer gewissen Ausgewogenheit wegen – die anderen, kritischeren, waren laut genug zu hören und zu lesen. Vielleicht lag es auch an jener roten Brille, dass ich mich so furchtbar über die Einwurfentscheidung echauffierte, die das 0:1 ermöglichte. Oder darüber, dass das taktische Foul gegen Harnik, der rechts durch gewesen wäre, keine Verwarnung nach sich zog. Seriös beurteilen konnte ich die Situation natürlich nicht, zu weit war ich entfernt vom Geschehen.

Genauso wenig übrigens, wie ich Santanas Handkontakt im Strafraum seriös beurteilen konnte (und kann, ich habe kaum Spielszenen auf dem Bildschirm gesehen) – dass daraus indes unmittelbar die zweite spielentscheidende Situation zu Ungunsten des VfB folgte, nämlich Niedermeiers Platzverweis, war für den gemeinen Heimfan sehr bitter: kein Elfmeter, dafür ab sofort zu zehnt. Weswegen wir bereits in der Stadtbahn, vergebens, nach Spielberichten suchten, in denen deutlich würde, wie übel Deniz Aytekin dem VfB mitgespielt habe.

Nun denn. Die Schlagzeilen waren andere. Mit Marcel Schmelzers Nase als Aufhänger. Was meines Erachtens bereits einiges über die Seriosität der Betrachtung aussagt. Natürlich sah die Szene übel aus, natürlich war sie für Marcel Schmelzer bitter, natürlich war es ein Foul, natürlich ist es Unsinn, Martin Harnik Böses bis hin zu einer Verletzungsabsicht zu unterstellen.

Dass selbst der von mir sehr geschätzte Jürgen Klopp seine Überhärtethese anhand dieser Szene zu exemplifizieren sucht, überrascht mich. Um es neutral auszudrücken. Enttäuschung ist so ein großes Wort.

An dieser Stelle möchte ich dann doch noch, vermutlich erstmals (?) in diesem kleinen Internettagebuch, explizit den kicker zitieren, der zwar die fast schon kloppeske Überschrift “Jagdszenen in Stuttgart” wählte, sich dann aber doch angenehm sachlich mit der Materie, konkret: den ins Feld geführten Dortmunder Verletzungen, auseinandersetzte:

“Geht man die Blessuren im Einzelnen durch, relativiert sich aber einiges. Schmelzer war beschrieben, auch Santana litt unter einem Zweikampf mit Harnik. Ein harmloser Luftkampf ohne Ellbogeneinsatz. […] Die anderen Drei haben für ein Bundesligaspiel keine außergewöhnlichen Blessuren.”

Ja, es war ein intensives Spiel. Das mich offensichtlich noch immer beschäftigt, ungeachtet der Geschehnisse der letzten Tage. Verrat, Todesstrafe, Kreuzigung, Auferstehung, Familiengespräche, Kuchen, und doch steht da nach wie vor die Aytekinfrage im Raum. Oder die Harnikfrage, der Santanazweifel, das Niedermeierausrufezeichen, die Artenschutzdebatte. Dabei wollte ich doch eigentlich nur sagen, warum ich Mario Götze nicht mehr zusehen mag. Nicht mehr zusehen kann, um genau zu sein. Ungefähr so, wie es mir stets schwerfiel, ein Interview mit Dietmar Hamann anzusehen. Wahrscheinlich ist das nicht fair, möglicherweise sind die dahinter stehenden medizinischen Ursachen nicht lustig. Bei Hamann, meine ich; bei Götze vermag ich es erst recht nicht zu beurteilen.

Sie wissen, was ich meine, nicht wahr? War hier ja vor einigen Monaten auch schon mal Thema:

“Wieso zupft Mario Götze so häufig sein Trikot zurecht? Ich kenne das so bisher nur von Frauen, die etwas zu kurze Röcke tragen. Oder von mir, wenn ich das Gefühl habe, aus einem Shirt herausgewachsen zu sein.”

Offensichtlich begegnete ich Götzes Tick im November noch wesentlich entspannter. Heute bin ich ungefähr so sensibilisiert wie für Bruno Labbadias “brutalst [engen Kader, starken Gegner, suchen Sie sich was aus]”, Fredi Bobics “Demut” oder meinetwegen auch Karl-Heinz Rummenigges “am Ende des Tages”. Und ebenso nachsichtig. Also gar nicht.

Weswegen ich plane, mich demnächst an die internationalen Fußballverbände zu wenden, um anzuregen, dass Trikotziehen künftig konsequenter geahndet werden möge: Pflichtgelb!

Würde mich doch sehr wundern, wenn Götze nicht spätestens nach der dritten gelb-roten Karte damit aufhörte. Dumm nur, dass ich am Samstag kurz vor der Pause auch Marco Reus dabei erwischte. (Man entwickelt halt irgendwann ein Auge dafür.)

0 Gedanken zu „Pflichtgelb!

  1. Chapeau, Herr Kamke: Was für ein großartiger Text! Für mich Ihr bester vielleicht in diesem Blog, und ich lese sie alle, immer, und gerne, vielleicht weil definitiv ein sehr wichtiger, bei dieser schwer erträglichen Berichterstattung selbst in an sich seriösen Publikationen, die eben recht nachlässig nachplappern und nachdrucken, was wahrscheinlich klingt; Dortmund = schöner Fußball, schlechte Rückrundenmannschaft = destruktiv, Blut –> böses Foul, und wenn Klopp so jammert, muss ja was dran sein.

    Was für eine grauenvolle Schiedsrichter-Performance, was für ein widerliches, unsportliches Verhalten von Weidenfeller, permanent am Testen, wieviel Beschweren und Geschrei und Gejammer und Bedrängen der überforderte Schiedsrichter noch toleriert ohne Gelb zu zeigen, sein ständiges Aufstacheln der Mitspieler und diese völlig überflüssige Aggressivität gegenüber den gegnerischen Spielern (nein, er muss Traoré nicht umrennen, wenn er den Ball längst sicher hat, auch wenn er im Fünfmeterraum nicht mit einer Verwarnung zu rechnen hat, etc, etc.) — und dann stellt der sich vor jede Kamera, setzt den treudoofen Blick auf und beschwert sich über mangelnde Fairness beim Gegner. Meine Fresse.

    Ich mochte sie immer ganz gerne, diese Dortmunder, aber das war definitiv zuviel Bayern München am Samstag, in vielerlei Hinsicht. Schade eigentlich.

  2. Bzgl. Götzes Neigung unspektakulär zu spielen, wo ein Spektakel nicht nötig ist: Deine Zeilen erinnerten mich doch sehr an einen Blogeintrag einer Quelle, die meinem Gedächtnis entflohen ist, hingehend eines anderen Spielers. Auch dort wurde die Neigung oft den einfachsten Weg zu gehen gelobt. Den einfachen Pass zu spielen, wo möglich. Das einfach Dribbling zu nutzen, nicht zu versuchen, spektakulär den Ball über drei Gegenspieler zu heben. Sich einen einfachen Laufweg auszusuchen, wo möglich.

    Thema dieses Beitrages war ein gewisser Argentinier ähnlicher Statur und Körpergröße Götzes, der üblicherweise dort spielt, wo Götze die Spiele gegen Kasachstan verbrachte. Auch wenn mir jegliche Vergleiche fern sein mögen und ich der festen Überzeugung bin, dass benannter Argentinier ein Unikat sondergleichen ist (und wir uns glücklich schätzen dürfen, ihn spielen zu sehen), sind doch ähnliche Tendenzen zu erkennen. Zumindest, wenn man zwei Bloggern in den Weiten des Internets glauben mag.

    Das Spiel selbst habe ich nicht gesehen, sehe mich also nicht in der Lage, qualifiziert darüber zu sprechen. Dankenswerterweise durfte ich Ostern angenehmer als mit dem VfB verbringen. Schön aber, wenn die Mannschaft mit höherer Qualität gespielt hat, als die letzten Wochen/Monate.

  3. @jon dahl:
    Oh, dieser Überschwang überrascht und erfreut mich gleichermaßen. Und schön, Dich, Verzeihung: Sie hier so, wie soll ich sagen, rau zu lesen.

    Was mich an Weidenfellers Interviews dann auch richtig ärgerte: die vermeintlich subtilen Andeutungen, wonach eine Mannschaft Fußball gespielt habe, er es von der anderen aber nicht wisse, oder so ähnlich. Holzhammersubtilität wie von Hildebrand zu Trapattonis Zeiten, wiewohl in ganz anderem Kontext.

    @Aerius:
    Ich weiß grade nicht, auf welchen Text Du Dich konkret beziehst, aber natürlich habe ich derlei auch schon gelesen. Über Messi, ja, und vor allem über Zidane. Ist natürlich auch nicht überraschend, eben weil die genannte Fähigkeit vermutlich mit ganz besonderen Gaben einher gehen muss (muss?) – man könnte wohl auch, etwas abgewandelt, klassische Torjäger nennen, wie Gerd Müller, wie Romario, die so verdammt oft die einfache, vielleicht gar profane Lösung wählten.

    Nun, so muss ich zugeben, habe ich mit einigen Namen eine Reihe gebildet, in die ich Götze zum jetzigen Zeitpunkt gewiss nicht stellen will. Aber möglicherweise konnte man heraushören, dass ich verdammt viel von ihm erwarte.

  4. Nun, man kann ja zumindest die leise Hoffnung haben, diese Reihe in Zukunft zumindest andeutungsweise bilden zu können, was auch in etwa das war, was ich ausdrücken wollte. Der junge Herr Götze beglückt uns ja nun aller Voraussicht nach noch ein paar (mehr) Jahre lang und wenn seine Entwicklung in ähnlichem Tempo vonstatten geht, werden wir noch viel Freude an ihm haben. Ob mit oder ohne Reihe.

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