Falsche Weichenstellung in den Achtzigern

Am Samstag sprach ich mit meinem Freund Thomas. Eigentlich heißt er gar nicht Thomas, das ist eher so ein fußballbezogener Ehrenname, tut aber auch nichts weiter zur Sache. Wir telefonieren nicht allzu oft, ein paarmal im Jahr, wenn überhaupt, und sprechen über großen und kleinen Fußball – im Idealfall über ein gemeinsam zu bestreitendes Spiel oder Turnier –, ein bisschen über die Familie und gelegentlich über Autos. Weil er sich da auskennt und ich nicht. Über Alkohol reden wir nie, wie er am Samstag nicht ohne Bedauern in der Stimme feststellte. Da kenne ich mich noch weniger aus als mit Autos.

In der Tat verabredeten wir auch am Samstag ein gemeinsames Spiel, irgendwann im Sommer, kleiner Fußball also, und kamen dann nicht umhin, kurz über dessen große Variante zu reden, über seine Hoffnung auf einen Freiburger Sieg, über die unmittelbar bevorstehenden Spiele der Nürnberger und der Braunschweiger, und auch über die freitägliche Punkteteilung in Hannover, die zu jenem Zeitpunkt aus Stuttgarter Sicht noch nicht so recht einzuordnen war.

Und während ich noch im Verborgenen sinnierte, wie es hatte dazu kommen können, dass der gemeine VfB-Fan erneut am drittletzten Spieltag zwischen Hoffen und Bangen die Spiele der anderen Abstiegskandidaten verfolgen musste, und wann und wie beim VfB alles den Bach hinunter gegangen war, nahm Thomas die Schuppen von meinen Augen: die Schuld liege bei Helmut Roleder.

Dem oder der gemeinen Mitlesenden mag diese Erklärung nicht auf Anhieb genügen; wer indes wie ich das eine oder andere Jahr mit ihm, Thomas, nicht Helmut, die Kabine teilte, weiß um die Schüsse von der Strafraumlinie, die Roleder ihm im Dutzend in den Winkel setzte. Ihm, dem hoffnungsvollen Nachwuchstorhüter aus der Provinz, damals, Mitte der Achtziger. So fuhr er wieder heim und kickte weiterhin mit meinesgleichen.

Jene Demut, die Roleder ihn damals lehrte, hat sich indes zwischenzeitlich wieder verflüchtigt. Und so ließ er mich am Samstag wissen, dass alles anders gekommen wäre, hätte man ihn nicht so schnöde abserviert, damals. Meine Worte, nicht seine.

Möglicherweise hätte er 1992 als Nachwuchshüter auf der Bank gesessen und Jovica Simanić in eine Unterhaltung verwickelt, die Herr Daum nicht zu unterbrechen gewagt hätte. Oder 2003 als alter Fahrensmann Meiras Eigentor gegen Chelsea verhindert und am letzten Spieltag in Leverkusen 0:0 gespielt. Manuel Fischer, jetzt schon als Torwarttrainer und guter Geist, an die Hand genommen und auf den rechten Weg geführt. Und 2011 wäre er vermutlich an Roleders statt gegen Gerd E. Mäuser angetreten, hätte dessen Wahlergebnis pulverisiert und ihn lächelnd nach Kroatien geschickt.

Oder so ähnlich. Auf jeden Fall wäre alles gut geworden. Hannover hätte man am Freitag deutlich geschlagen und so dem Spiel vom kommenden Wochenende die Brisanz genommen, weil Wolfsburg dem VfB den Champions-League-Platz auch rechnerisch nicht mehr hätte streitig machen können.

Dass es, zumindest aus Stuttgarter Sicht, auch in der jetzigen Situation nicht mehr brisant sei, hört man an der einen oder anderen Ecke, insbesondere zwischen den Zeilen. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Zu oft haben sich im Lauf der Saison zu viele Blätter gewendet. Oder, ehrlicher ausgedrückt, meine Einschätzungen als völlig realitätsfremd erwiesen. So zum Beispiel jene vom 4. Spieltag, als ich das Braunschweiger Spiel vor Ort in Hamburg sah und den Aufsteiger als schlichtweg nicht konkurrenzfähig betrachtete. Tatsächlich begegnet er nicht nur dem buckligen HSV längst auf Augenhöhe.

Von der spätsommerlichen, auch noch herbstlichen Gewissheit, dass der VfB nicht in die Abstiegszone gerate, will ich gar nicht reden. Wohl aber von der Überzeugung, dass der Club mit Verbeek die Kurve bekommen habe und sich relativ souverän in den gesicherten Tabellenbereich hineinbewegen werde. Dass Slomka den HSV noch weit nach oben führen werde (erneut geblendet von einem Besuch im Volkspark, diesmal beim 3:0 gegen Dortmund). Oder davon, dass Freiburg sich nicht mehr berappeln werde. Dass Hannover ohne jeden Zweifel nun doch durchgereicht und hinter dem Nachbarn landen werde. Und wie sollte der VfB sich retten, wenn er in den letzten vier Spielen gegen drei der damals ersten vier Mannschaften spielen würde?

All das war falsch, und so bleibt nur zu hoffen, dass auch die im letzten Satz implizit geäußerte These bereits am Wochenende widerlegt wird. Wenn sich das Blatt nicht doch noch einmal wendet. Der Gedanke, am letzten Spieltag auf einen Punktgewinn der möglicherweise bereits fix auf Platz sieben stehenden Mainzer gegen den HSV hoffen zu müssen, oder aber auf einen des VfB in München, ist kein schöner. Und seien wir ehrlich: bei HSV-Bayern am Samstag ist nun wahrlich alles möglich. Binsenweisheit, eh klar, aber wer will gerade jetzt einschätzen, ob sich der FC Bayern gegen den HSV mit Toren abreagiert oder apathisch über den Platz spaziert.

Es ist ebenso wohlfeil wie ehrlich, zuzugeben, dass ich an dieser Stelle unwillkürlich und ungeplant an einzelne ungenannte Münchner Spieler dachte. Ein bitterer Abend war das heute, gestern, wann auch immer dieser Text online geht, also am Dienstag halt. Ein bitterer Abend für Xabi Alonso, dem ich das verpasste Finale wahrlich nicht gönne, und ein bitteres europäisches Ende einer phasenweise brillanten, ja begeisternden Saison für den FC Bayern. Noch vor wenigen Wochen hätte ich nicht für möglich gehalten, dass der Titelverteidiger chancenlos ausscheiden würde, und noch zu Beginn des Rückspiels hätte ich fünf Tore Differenz in diesem Halbfinale wohl als unvorstellbar bezeichnet.

Noch zu Spielbeginn schien mir allerdings auch unvorstellbar, dass ich neunzig Minuten später den Hut vor Pepe, jenem Pepe, dessen Verhalten auf dem Platz ich seit Jahr und Tag für verachtenswert halte, ziehen würde, der das Spiel nicht entschieden hat, gewiss, der mich aber nachhaltig beeindruckt hat, indem er seinen Fuß immer noch irgendwie dazwischen bekam, fast wie Martin bei mir im Mittwochskick, wenn er einen guten Tag hat, aber der hat auch verdammt lange Beine.

Am Ende (na ja, fast) eines wieder einmal ohne roten Faden mäandernden Beitrages darf ich vielleicht noch einmal auf einen etwas älteren, etwas weniger mäandernden Text verweisen, der der geschätzte Herr @lizaswelt über die Maßen gelobt und drüben bei Fokus Fussball als Fußballblogbeitrag des Monats März vorgeschlagen hat.

Die Abstimmung läuft noch, Siegchancen habe ich völlig zurecht keine mehr, aber vielleicht möchte der eine oder die andere geneigte Mitlesende noch ein paar tolle Texte durchlesen bzw. anhören und eine Präferenz zum Ausdruck bringen. Ersteres geht noch länger und ist meines Erachtens auch wichtiger, Letzteres nur noch bis Mittwoch, 30. 4., 18 Uhr. Und ist auch wichtig, klar, weil es Fokus Fussball unterstützt, irgendwie.

Und ganz am Ende dann doch noch die nagende Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Cacau den nicht reingemacht hat.

0 Gedanken zu „Falsche Weichenstellung in den Achtzigern

  1. Ich kenne von dem Spiel am letzten Freitag nur das nackte Ergebnis. Ich habe nicht einen Beitrag gelesen. Nicht eine Einschätzung gehört. Keinen Zusammenschnitt – nicht mal in Ausschnitten – gesehen. 0 zu 0. Mehr weiß ich nicht und bis ich diesen Text las dachte ich auch, dass ich nichts verpassen würde, wenn ich dieses Spiel mit Nichtachtung strafe wie es einst selbst die Sportschau mit dem Gros der Bundesligaspiele (von der zweiten Liga oder noch tiefer verorteten Kicks ganz zu schweigen).

    Selbst bei der Lektüre dieses wie stets gerade wegen seiner teils unstrukturierten Erzählweise lesenswerten Beitrages verspürte ich nicht den Wunsch den Zustand der Ahnungslosigkeit aufzubrechen. Bis zum letzten Satz. “Cacau” und “den”. Irgendwie scheint diese “Frank Mill des Tages” Nummer doch noch nicht abgeschlossen. Noch widerstehe ich. Mal gucken wie lang ich es aushalte. Und wenn ich doch noch nach einem Schnipsel vom Spiel suche, dann natürlich nur um deiner Frage eine Antwort hinzuzufügen.

    Wir lesen uns.

  2. Klaas, ich halte Deine Strategie für uneingeschränkt richtig. Es gibt de facto keinen Grund, Dir das Spiel anzusehentun. Es sei denn, Collinas Erben wollten über den nicht gegebenen Elfer für den VfB reden …

    Ach, und Cacau: er stand am kurzen Pfosten, etwa vier Meter vor dem Tor, und er schob (na ja, schob) die – allerdings beinahe kniehohe – Hereingabe am kurzen Pfosten vorbei. Ärgerlich, weil’s halt im Rückblick wohl den Klassenerhalt besiegelt hätte, aber gewiss kein Mill.

  3. Vor ein paar Monaten habe ich mal die Überzeugung geäußert, dass die Prognosefähigkeit bzgl. der Bundesliga gar nicht mal so schlecht (oder sogar ziemlich gut) ist. Jetzt listest du hier reihenweise Fehleinschätzungen auf. Aber wenn du dich schon nicht selbst verteidigst, mach ich das mal. 1. hätte fast jeder gedacht, dass Verbeek Nürnberg entspannt rettet, nachdem die Rückrunde ziemlich stark losging. 2. hätte im Winter kein Vfbler gedacht (und wahrscheinlich auch sonst keiner), dass der VFB noch so unten reinrutscht. 3. ist es ziemlich ungewöhnlich, dass am vorletzten Spieltag bisher 28 Punkte für die Relegation reichen. uswusw.

    Aber, und das ist das schöne: Deine Texte können noch so falsche Prognosen enthalten, lesenswert sind sie trotzdem, weshalb es schade ist, dass es immer nur einen Gewinner für den Fußball-Blog des Monats gibt.

    Und Ibisevic hätte den gemacht!

  4. Die kompetente Hälfte von Collinas Erben hat mir gegenüber im vertraulichen Stammtischgespräch am Montag zu Protokoll gegeben, dass er den Zweikampf mit Didavi auch nicht für zwingend elfmeterwürdig erachtete.

  5. Wenn ein der Schiedsrichterpodcast, bzw. besagte (zweifellos enorm kompetente) Hälfte, eine Schiedsrichterentscheidung als nicht zwingend falsch betrachtet, glaube ich, mich in meiner Einschätzung, sie sei eher falsch gewesen, bestätigt fühlen zu können.

  6. Ich hab mich immer wieder an jene oben erwähnte Äußerung Deiner festen Überzeugung erinnert, dass Braunschweig kaum eine Chance haben wird, überhaupt ein paar Punkte zu sammeln. Und habe damals zumindest geistig, falls nicht bei Twitter, darauf hingewiesen, dass ich das nach den ersten 10 Spielen des FC Augsburg in seiner ersten Erstligasaison ebenfalls dachte und mich völig getäuscht habe. Damals waren sie zwar nicht so gut wie jetzt. Aber ein bisschen Akklimatisierungszeit muss man wohl leider gerade heute den kleineren Zweitligaufsteigern zugestehen, weshalb ich Braunschweig für noch nicht völlig erledigt hielt.

    Und dann aber auch ach ja, die ganzen nicht stattgefundenen Karrieren wie die des Thomas. Wie viel weniger würde man sich beteiligt fühlen, wenn man nicht den Glauben hegte, fast dazu gehört zu haben. Wobei er mit einem Probetraining gegen Roleder ja dies nicht nur glauben muss, das mit dem “fast”.

    Ich war übrigens letztens extrem baff, wie viele Tore Cacau insgesamt in der Bundesliga erzielt hat. Von den noch Aktiven liegt er mit seinen 88 Toren doch glatt auf Rang 3. Ich kann mich fast an kein einziges von ihm erinnern, was mal wieder zeigt, dass der VfB irgendwie nicht so ganz für mich im Fokus steht, zu meiner Schande zeigt es das. Ist schließlich auch erste Bundesliga, auch nächste Saison wieder.

  7. Trainer, an die Äußerung zu Augsburg kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an Deine – offensichtlich gerechtfertigte – Skepsis ob meiner Äußerung, von der ich mir zwar nicht so recht vorstellen kann, dass sie Zweifel an Braunschweigs Chancen beinhaltete, “überhaupt ein paar Punkte zu sammeln”, die aber in jedem Fall wenig schmeichelhaft war. Nicht für die Eintracht und noch weniger, rückblickend, für mich.

    Ebenso in Erinnerung ist zudem Dein Hinweis auf mangelnde Konkurrenz am anderen Ende der Skala, der mindestens mit Blick auf die aktuelle und die vorhergehende Saison deutlich leichter aufrechtzuerhalten ist als der meinige.

    Bzgl. Thomas und dem Dazugehören fällt mir ein Zitat von Eric Cantona aus seiner sehr lesenswerten Biographie von Philippe Auclair ein, die eigentlich bestenfalls so halb passt, die mich aber unmittelbar an mein (unser?) Selbstbild hinsichtlich der eigenen Bundesligakarriere erinnert: “When I see a bicycle, I’m sure I can beat the world record and win the Tour de France.”

    Cacau: ich habe hin und her überlegt und kam einfach nicht auf Kießling (auch hier: zu meiner Schande), dachte dann sogar, dass die “Aktiven” auch jene beinhalten, die nicht mehr in der Bundesliga spielen, also auch Klose. Dann aber auch Gomez, was den Gedanken widerlegte. Es steht zu befürchten, dass er, Cacau, die 100 nicht mehr voll macht. Zumindest nicht in Stuttgart, auch wenn der VfB, Dein Wort in Gottes Ohr, oben bleiben sollte.

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