Befreiungsschlag

Fußball ist so schön einfach. Und so, wie soll ich sagen, unmittelbar. Für jeden verständlich. Innerhalb kürzester Zeit wird deutlich, ob wir einen genialen Moment oder einen fatalen Fehlpass erleben, ob ein Dribbling großartig oder stümperhaft, der Hackentrick pfiffig oder fahrlässig, der Abschluss sensationell oder einfach eigensinnig ist. Und einen Befreiungsschlag erkennt selbst der uninteressierte Laie auf Anhieb als solchen.

Etwas schwieriger wird es, wenn man das Ganze eine Ebene höher hebt, wenn der Befreiungsschlag nicht nur für eine konkrete Spielsituation, sondern im Idealfall für eine ganze Saison gelten soll. Zumindest mir fällt es dann schwer, aus der Situation heraus unmittelbar zu erkennen, ob der vermeintliche Befreiungsschlag tatsächlich geeignet ist, die Situation zu bereinigen, oder ob sie eben noch nicht geklärt ist. Bezieht man diese Frage auf den gestrigen Sieg des VfB Stuttgart in Glasgow, lässt sich sicherlich feststellen, dass Markus Babbel Gelegenheit bekommen hat, etwas Luft zu holen, dass sich die Mannschaft neues Selbstvertrauen geholt hat, und dass natürlich die Chancen in der Champions League intakt sind. Dennoch würde ich persönlich zögern, von einem nachhaltigen (Buzzword Bingo?) Befreiungsschlag zu sprechen. Ein Teil der Qualitätsmedien ist weniger zurückhaltend:

Tatsächlich spricht manches dafür, dass es sich um einen Befreiungsschlag handeln könnte. Erstmals war man in der Lage, die eigene Schwächephase nach dem wie so oft guten Beginn auf eine knappe Viertelstunde vor der Pause zu beschränken, um danach endlich einmal weiter nach vorne zu spielen und so letztlich, anders als gegen Glasgow und bei Urziceni, den Vorsprung auszubauen. Mit Kuzmanovic ist nach langer Suche nun doch der Gomez-Nachfolger gefunden: er hat gleich viel gekostet wie Marica, ist aber torgefährlicher. Cacau füllt die Lücke auf der 10. Pogrebnyak strotzt mittlerweile vor Selbstvertrauen – Rudys Tor hat er großartig mit der Hacke vorbereitet. Lehmann hat die verloren geglaubte Aggressivität wiederentdeckt und grätscht auch mal mit beiden Beinen voraus, wenn längst abgepfiffen ist.

Ok, etwas ernsthafter:
Vieles war gut gestern, insbesondere die Entschlossenheit, sich die Butter nicht wieder vom Brot nehmen zu lassen. Mit den ersten Erfolgserlebnissen kam auch das Selbstvertrauen für Ansätze zum Kombinationsspiel und die eine oder andere Einzelaktion zurück. Defensive Harakiri-Aktionen waren bis auf Pogrebnayks verheerenden Querpass, der beinahe zum Ausgleich geführt hätte, Mangelware. Das 2:0 kann man mit etwas Wohlwollen sogar als schnellen Gegenangriff nach einem am eigenen Tor abgefangenen Ball walten – wann hat man so etwas zuletzt gesehen? Die Abwehr stand souverän, im Mittelfeld war man mit Träsch und Kuzmanovic defensiv kompakt und hatte dennoch genügend Inspiration, nach vorne etwas zu bewegen. Ob das gegen stärkere Gegner als die Rangers bereits reicht, bleibt allerdings abzuwarten, zumal erneut keiner der eingesetzten Stürmer traf.

Sebastian Rudy? Zu ihm ist aktuell das meiste gesagt. Was mich absolut beeindruckt, ist seine enorme Ruhe am Ball, auch wenn man sie in der einen oder anderen Situation als Phlegma auszulegen geneigt ist. Für einen 19-Jährigen ganz außergewöhnlich, finde ich.

Die aufmerksame Leserin mag bemerkt haben, dass ich nicht so recht weiß, wie ich das Spiel einordnen soll. Einerseits habe ich mich über den hochverdienten Sieg und das Spiel des VfB außerordentlich gefreut und will auf anhaltende Besserung hoffen. Andererseits waren die Rangers einfach erschreckend schwach, sodass man nicht der Versuchung erliegen sollte, plötzlich alles in den hellsten Farben und höchsten Tönen darzustellen.

Aber am Sonntag wird erst einmal das Kanonenfutter aus Leverkusen hergespielt.

0 Gedanken zu „Befreiungsschlag

  1. Bitter, dass als nächstes die undankbaren Leverkusener kommen. Da wird nicht viel “Momentum” zu holen sein. Dabei wäre genau das so wichtig, um sich endlich in einen anderen “mind set” zu bewegen, der einen befreiter aufspielen lässt.

    Der Jürgen hat scho au weise Worte aus Amerika mitgebracht.

  2. Ich möchte anmerken, daß der letzte Stuttgarter Befreiungsschlag in Frankfurt war und nach dem tollen Spiel eine Serie von 10 Nichtsiegen stand.

  3. @Gusteau
    Wirklich, ein total falscher mind set. =)

    @Autor
    Ob es tatsächlich der Befreiungsschlag für die ganze Saison gewesen ist, das wird man natürlich erst im Nachhinein sehen können – deswegen hab ich ja auch bewusst ein Fragezeichen hinter meine Überschrift gesetzt.

    Jetzt bin ich mal gespannt auf Leverkusen. Wenn wir da ein Remis holen könnten, wäre ich schon ganz zufrieden – sofern dann eine Woche später ein Sieg gegen Bochum nachgelegt werden kann.

  4. “Wenn wir da ein Remis holen könnten, wäre ich schon ganz zufrieden” — nein, Herr Babbel, das hat sich nicht bewährt und passt auch nicht zu unserer Vereinsphilosophie. Hier der Beweis:

    “Der VfB spielt im Neckarstadion,
    er spielt so kraftvoll und so fair.
    Er spielt auf Sieg, das weiß ein jeder schon
    oh Fußballherz, was willst du mehr.”

    PS: Und ja, das gilt auch auswärts.

  5. Tja, es ist halt ein schmaler Grat zwischen Selbstvertrauen und Selbstüberschätzung… =)

    Natürlich erwarte ich auch, dass die Mannschaft immer nach vorne und auf Sieg spielt – das alleine garantiert aber eben nicht selbigen. Von daher wäre ich am Ende schon zufrieden, wenn es nicht 0 Punkte gibt. Wir sind nun mal gerade 16. und spielen gegen den ungeschlagenen Tabellenführer.

    1. So weit würde ich nicht gehen. Wenn ich, völlig überraschend, wieder vom Fußball ausgehe, braucht es in einer Abwehrschlacht in der Regel deutlich mehr als nur einen Befreiungsschlag, um eine Wende herbeizuführen.

      So wie ich die zahlreichen Befreiungsschläge in der Presse verstehe, sollen sie aber in der Tat gleichzeitigig Wendepunkte sein.

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