Am Samstag war Hoffenheim zu Gast im Neckarstadion. Das geschickt angebrachte Spruchband, dessen Platzierung ich als originell empfand, hat mittlerweile wohl jeder irgendwo gesehen, die divergierenden Reaktionen zumindest der eine oder die andere gelesen. Ob man das Ganze auch weniger plump formulieren und dabei witziger sein könnte, soll jeder für sich beurteilen.
“Tradition wird siegen!” skandierte ein Teil der gefühlten Cannstatter Kurve Mitte der zweiten Halbzeit, ein anderer Teil schüttelte den Kopf ob des Wechselgesangs, dessen Klang ein wenig an Lagerfeuerlieder über 10 unbekleidete Menschen mit dunkler Haut gemahnte. U alele! Unabhängig von der Frage, ob Tradition auf lange Sicht tatsächlich siegen wird, und noch unabhängiger von der Frage, ob Tradition für sich genommen einen Wert darstellt, hätte ich mir kurzfristig schon sehr gewünscht, dass die Sänger recht behalten.
Gegen 10 Hoffenheimer, von denen noch dazu nur wenige einen richtig guten Tag erwischt hatten, hätte man sich einen Sieg durchaus vorstellen können. Der Trainer scheint diesbezüglich zumindest vor dem Spiel, als noch mit 11 Gästen gerechnet wurde, nicht ganz so zuversichtlich gewesen zu sein: er verstärkte die Defensive. Erinnerte sich wohl an Matthias Sammer, den Mann, der dereinst den Libero vor der Abwehr hoffähig machte, und rief Mamadou Bah zu dessen Nachfolger aus. Leider bin ich mir nicht ganz sicher, ob die beiden Christians auf der Doppelsechs, von der man angesichts der neuen Entwicklungen nicht so genau wusste, ob sie eine etwas zurückhängenden Doppelzehn sein sollte, gegenüber dem Zuschauer einen Informationsvorsprung hatten, oder ob die drei die neue Konstellation on the job erlernen sollten.
Bah bewies in der ersten Hälfte verschiedentlich, dass er in der Vorwärtsbewegeung über ein gutes Auge verfügt, als er in aller Ruhe vernünftige Bälle spielte. Ja, die Ruhe. Von der hat er manchmal auch ein bisschen zuviel. Wenn er als gefühlter letzter Mann in enge Dribblings geht, ohne sein Tempo zu erhöhen, zum Beispiel. Wobei ich nicht ausschließe, dass Beschleunigung einfach nicht sein Ding ist. Da kann man dann wohl nichts machen. Besonders glücklich war auch der zaghafte Querpass über 40 Meter an der Mittellinie nicht, und auch das Foulspiel gut 20 Meter vor dem Tor, als Delpierre schon den Ball am Fuß hatte, darf nicht als übertrieben clever gelten. Oder die reihenweise verlorenen Zweikämpfe gegen Ba.
Aber immerhin: Jens Keller hat taktische Flexibilität bewiesen. Er hat die Systemfrage gestellt. Hat das Gross’sche 4-4-2 in ein 4-1-4-1 umgewandelt. So ist zumindest meine Vermutung. Schade, dass die vordere 1 sehr lange den alten Fehler alleiniger Spitzen begangen hat, nämlich zu glauben, dass die alleinige Spitze alleinige Spitze sei und das Spiel auf eigene Faust entscheiden müsse. Bis zum 1:1 ließ Cacaus Übermotivation meist schon die Ballannahme misslingen.
Doch zurück zur Systemfrage: letztlich hat sich der VfB für das System Zufall entschieden. Es ist, rein statistisch betrachtet, nur eine Frage der Zeit, bis blindwütig in Richtung des gegenerischen Tores gespielte Bälle, gerne bei Freistößen von der Mittellinie, aber auch aus dem Spiel heraus (-> Halbfeld, das) oder gar vom Fuß des Torwarts, irgendwann doch für Gefahr sorgen. Natürlich könnte man sich das Ganze etwas strukturierter vorstellen, natürlich würde man sich gerade in Überzahl erhoffen, dass nicht nur Timo Gebhart, aus dem wohl nie ein zweiter Klaus Fischer wird, den Platz auf den Außenbahnen nutzt und dabei Andi Beck nicht immer gut aussehen läst, sondern dass man auch rechts gegen Ibertsberger und Salihovic (!) zu gefährlichen Hereingaben kommen möge. Wenn aber Martin Harnik, ein Mann mit Stürmerblut, lieber vor der Strafraumeck quer passt, als sein Tempo in einer wahrlich günstigen Situation in den 16er mitzunehmen, und wenn vor allem Cristian Molinaro und Christian Träsch, zwei Spieler, denen ich unterstellen würde, dass sie das Spiel ganz gut verstanden haben, reihenweise Willy-Sagnol-Gedächtnisflanken schlagen, ohne Pizarro und Ballack in der Mitte stehen zu haben, muss ich wohl davon ausgehen, dass das so gewollt ist. Halbfeldflanken als probates Mittel bei Überzahl.
Ja, ich weiß, das ist eines meiner Lieblingsthemen. Und natürlich ist es zu kurz gegriffen, die Misere an diesem Punkt festzumachen. Misere? Welche Misere? Wenn die Mannschaft so weiter spielt, wird sie die nötigen Punkte holen. Sagt zumindest der Kapitän. Wobei sich ganz nebenbei auch noch die Frage stellt, wie viele Punkte denn nötig sein werden. Und wen man hinter sich lassen will. Mit Freiburg, Hannover und Mainz sind einige der üblichen Verdächtigen verdammt weit weg. Frankfurt ist zu solide, um einzubrechen, Schalke und Wolfsburg eine andere Kragenweite.
Bleibt also das Ziel, die beiden Traditionsvereine vom Rhein hinter sich zu lassen, und die Hoffnung, dass die beiden Traditionsclubs aus Franken und der Pfalz auch noch in den Abstiegskampf einsteigen, gemeinsam mit dem Traditionskultclub.
Deine Analyse ist wie immer treffend. Ich möchte hier mal vorsichtig anmerken, dass der Unmut in der Kurve gegenüber den (wohl neuen) Lautsprechern der Vorsänger nach meinem Eindruck wächst. Es nimmt auch immer abstrusere Züge an mit welcher Nicht-Beachtung des Spielgeschehens dort auf Teufel komm raus gegen alles und jeden angesungen wird.
Ist ja nicht nur unser Kapitän.
Auch der Präsident sagt ja, dass das schon wird, wenn wir ein, zwei Mal gewinnen. Und der muss es ja wissen. Schließlich weiss er schon nicht, woran es liegt, dass es dauernd schief geht. Und irgendwas muss er ja wissen. Vielleicht ja eben das.
@Dusan:
Nur in der ersten Halbzeit sang ein anderer junger Mann vor, nach der Pause war alles wieder beim Alten.
@hirngabel:
Bestechende Logik. Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. Will ich ja auch nicht, darf gerne so kommen – sofern man dann nicht gleich wieder die Augen verschließt.
Deine Blogs gefallen mir.
Mal wieder sehr treffend analysiert.
Nach den verschiedensten Verläufen die letzten Spiele frage ich mich wirklich wie man noch gewinnen möchte. Es gelingt ja nicht mal bei einer 3-0 Führung oder in Überzahl mit besseren Chancen.
Dabei hatte ich am Samstag noch ein recht gutes Gefühl, dass sie es packen können. Nur leider mal wieder nichts. Wie halt die ganze Saison schon^^
Bin echt gespannt, wie es weitergeht…
Danke schön.
Ja, eben diese Frage stelle ich mir auch. Wie will man noch gewinnen? Klar, den einen oder anderen Sieg fährt man sicherlich ein, mit Glück, Zufall, oder auch mal einer Leistung wie gegen Bremen. Aber einfach mal eine Reihe von Spielen gewinnen, weil man taktisch eine klare Linie verfolgt, die die fußballerischen Fähigkeiten der Mannschaft optimal nutzt? Eher nein.
PS: Keine Ahnung, wieso Du in der Moderationsschlange gelandet bist.
Weil halt immer aus der Situation heraus gehandelt wird. Da wird mal davon gesprochen, junge Talente zu integrieren, dann kauft man doch wieder zu, mal wird gespart, dann in der Winterpause wieder investiert. Und die Trainer werden auch nicht so ausgewählt, dass sie ins Konzept passen. Ich würde mir wünschen, dass man in der Winterpause einen Trainer holt und dann aber auch sagt: Mit dem gehen wir notfalls auch in die 2. Liga, das ist unser Trainer, der teilt unser Konzept der Jugendförderung. Aber das sehe ich weit und breit nicht.
Ich hatte gehofft, diesen Trainer habe der VfB im Herbst 2009 verpflichtet. Und dass man im Frühjahr/Sommer 2010 ein wenig mehr auf seine Wünsche eingehen werde, um ihm genau das zu signalisieren, was Du beschreibst (wohl wissend, dass er vermutlich selbst nicht in die zweite Liga gegangen wäre).
Aber ja, auch jetzt wünsche ich mir so ein Vorgehen wieder. Und keinen Feuerwehrmann, dem man vielleicht auch noch zwei vermeintliche Stars für den Abstiegskampf kauft. Ja, ich habe das Beispiel von Dick Advocaat in Gladbach vor Augen, auch wenn er nicht als klassischen Feuerwehrmann gelten dürfte. Keller, Moore, Böhme, Thijs, Daems, Sonck, Elber.
@Dusan:
Ich weiß, dass “Wünsche erfüllen” und “Jugendförderung” ein Widerspruch sein kann. Muss aber nicht. Ich fand es beispielsweise richtig, dass Hoffenheim Simunic verpflichtete, um die junge Abwehr zu stabilisieren. Dass sie dafür ein paar andere Fehler begingen, steht auf einem anderen Blatt.
@heinzkamke Sehe ich auch so. Aber bei den traditionslosen aus dem Rhein-Neckar-Raum sehe ich dennoch eine klare Ausrichtung: Junge Talente von extern zum Verein zu holen. Da steht der Verein und der Trainer dahinter. Sowas sehe ich nicht in Stuttgart. Da wird – so scheint es jedenfalls – nach aktueller Lage entschieden.
Wollte man das tun, käme man allerdings nicht umhin, sich irgendwann doch eine Scoutingabteilung zuzulegen…
Jetzt muss ich noch was loswerden. Da sieht man halt, was da für Leute an den Schalthebeln sitzen: Keine Scoutingabteilung (wahrscheinlich weil zu teuer), aber Bezahlkarte, Stadionumbau, Logen und Business Bereiche. Da sieht man halt schon, dass da Unternehmer am Werk sind und keine Leute, die sich mit Profisport auskennen.
Es ist ja nicht so, dass der VfB keine Scouts hat. Man fragt sich nur, ob die ihre Arbeit gut machen. Wie bei der Vereinsführung.
[…] war’s dieses Jahr eher selten. Tradition wird siegen belustigte gleichwohl ein […]